Jorge Calandrelli Interview

Ein Arrangeur und Gentleman

pdf[1] (erschienen im Jazz Podium 02/2019)

© Hans-Bernd Kittlaus 2018
Jorge Calandrelli by © Hans-Bernd Kittlaus 2018

Nach einem kompletten Aufnahmetag in den Kölner Riverside Studios wirkt Jorge Calandrelli erstaunlich frisch und fit. Dieser ältere Herr, der sich auch in 40 Jahren in den USA seine lateinamerikanische Eleganz erhalten hat, ist in Deutschland kaum bekannt. Dabei hat wohl jeder schon Arrangements von ihm gehört, zählt er doch zu den First Call Arrangeuren in USA, insbesondere wenn Streicher zum Einsatz kommen sollen. Er hat mit vielen bekannten Künstlern von Tony Bennett bis Diana Krall, von Barbra Streisand über Amy Winehouse, Whitney Houston, Aretha Franklin bis Yo-Yo Ma gearbeitet. Seine Genre-Bandbreite ist einzigartig von Jazz über Pop bis Klassik.

In Köln nahm der sechsfache Grammy-Gewinner Calandrelli auf Einladung von Produzent und Studio-Chef Ralf Kemper eigene Kompositionen auf, darunter elf Klavierwerke und ein Klarinettenkonzert. Dazu spielten die Solisten Andy Miles (Klarinette) und Stanislava Stoytcheva (Klavier) im Studio. Für besonders jazz-orientierte Stücke kamen Bassist John Goldsby und Schlagzeuger Hans Dekker von der WDR Big Band dazu. Die Aufnahmen zeigten einen verblüffend nahtlosen Mix von Jazz und Klassik, der Freunden beider Genres gefallen sollte. JP Mitarbeiter Hans-Bernd Kittlaus hatte am Ende der Aufnahmen Gelegenheit zu einem Interview.

HBK: Es ist unglaublich, welches breite Spektrum von Musik Sie in Ihrer Karriere geschaffen haben von klassischer Musik über Film und Pop bis zu Jazz. Spielen diese Genre-Unterschiede für Sie überhaupt eine Rolle?

JC (lacht): Nein, nein, für mich sind die Genres wie verschiedene Sprachen, die man lernen muss. Wenn man verschiedene Sprachen gut kann, dann denkt man in jeder anders. Genauso ist es auch mit den Genres in der Musik. Ich wurde in Argentinien geboren (1939). Dort lernte ich früh lateinamerikanische Folklore kennen, z.B. brasilianische. Daneben war Jazz meine erste Liebe. Ich konnte damals schon viele Musiker live erleben, Gil Evans, Miles Davis, oder Nat King Cole, als ich zwölf Jahre alt war. Und klassische Musik. Ich liebte schon damals Ravel, Strawinsky, Debussy, Bartok.

HBK: Ich war im vergangenen Jahr in Buenos Aires und konnte das eindrucksvolle Teatro Colon (Oper) besuchen.

JC: Ja, das Teatro Colon ist ein wunderbares Haus. Da habe ich damals viel gehört. Eines der Stücke, die wir hier aufgenommen haben, ist mein Klarinetten-Orchester-Konzert, das ich für Eddie Daniels geschrieben habe. Er hat das 1985 uraufgeführt. 2010 spielte er es mit dem philharmonischen Orchester von Buenos Aires im Teatro Colon. Unvergesslich für mich. Für die Aufnahme hier habe ich es umarrangiert für Piano und Klarinette. Ich bin sehr glücklich mit dieser Version, weil sie meine Komposition ganz roh und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Als Kind habe ich Tangos und andere argentinische Musik zum Spaß gespielt, einfach nach Gehör; genauso brasilianische Musik wie Bossa Nova und Jazz. Ich studierte dann klassische Musik. Als ich Profi wurde, habe ich alles gemacht bis zu Rock und Heavy Metal. Als ich 1978 in die USA ging, fragten mich die Leute, was machst du. Und ich konnte keine klare Antwort geben.

HBK: Als ich gerade in die Aufnahmen reinhören konnte, habe ich mich auch gefragt, wo die Industrie diese Musik einordnen würde.

JC: Genau. Das ist ein Crossover zwischen Klassik und Jazz. In diesen Kompositionen sind alle musikalischen Lieben meines Lebens vereint. Als ich in New York lebte, sagten mir viele Musiker, hier geht zurzeit gar nichts ab. Ich habe denen lieber nicht erzählt, wie voll beschäftigt ich war. Ich bin dauernd von einem Genre zum anderen gesprungen. Pop, Jazz, Klassik, Latin … wenn ich mit einem Jazz-Musiker zusammenarbeitete, habe ich auch nicht erzählt, dass ich die Woche zuvor an einem Pop-Album gearbeitet hatte. Das mochten die komischerweise nicht. Aber das war Teil meiner musikalischen Persönlichkeit. Ich habe sogar ein deutsches Lied arrangiert, „Falling in Love Again“. Ich glaube, in deutsch war das was mit „Kopf“.

HBK: Ja. „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“. Marlene Dietrich.

JC: Genau. Marlene Dietrich. Ich habe mein Arrangement mit dem Royal Philharmonic Orchestra aufgenommen. Und in Tokio mit einem japanischen Orchester. So kommt in meinem Spektrum sogar Deutschland vor (lacht).

HBK: Bei so vielen unterschiedlichen Genres, wie halten Sie sich auf dem Laufenden, was sich musikalisch tut? Gehen Sie viel in Konzerte?

JC: Na ja, ich mache keinen Rap oder Hiphop.

HBK (lacht): Bei Ihrem Spektrum würde mich das nicht überraschen.

JC (lacht ebenfalls): Vor zwei Wochen habe ich Aufnahmen mit Barbra Streisand in Los Angeles gemacht. Zwei wunderbare Pop Songs mit Streichern. Es geht einfach um schöne Musik. Zeitlos. Alles was gut ist, mache ich gern. Als nächstes komponiere ich die Musik für einen argentinischen Film, „The Devil’s Whip“, über eine Terrorattacke 1994.

HBK: Ich habe schon mit vielen Arrangeuren gesprochen. Die sind meist sehr gut in einem bestimmten Stil. Ich kenne niemanden, der so gut in so vielen Genres und Stilen ist.

JC: Das stimmt. Mein Motto ist: Die Sache, die ich morgen mache, muss besser sein als die, die ich gestern gemacht habe. Und das bedeutet harte Arbeit. Manchmal brauche ich drei Tage nur für eine Einleitung, so wie für die Barbra Streisand Songs. Dann fließt es aber fast von selbst.

HBK: Lassen Sie uns über das Aufnahmeprojekt hier in Köln sprechen. Wer hatte die Idee dazu?

JC: Ich traf Ralf Kemper zum ersten Mal vor etwa zehn Jahren in Los Angeles. Wir machten zusammen ein Album mit Arturo Sandoval.

HBK: A time for love.

JC: Ja, genau. Ein wunderschönes Album mit Jazz Balladen mit Streichern. Wir hatten sofort einen guten Draht. Ich habe im Laufe der Jahre mit so vielen Menschen zusammengearbeitet. Ich weiß inzwischen in wenigen Sekunden, was für ein Mensch mir gegenübersteht. Das ist wie ein Radar. Bei uns hat es sofort geklickt. Wir sind dann Freunde geworden. Als er für sein Jimmy Scott Projekt mehr Zeit in Los Angeles verbrachte, haben wir uns öfter getroffen. Er kam dann mit der Idee, dass er ein Album mit meiner Musik machen wollte, also nicht nur Arrangements, sondern meine Kompositionen. Das war vor ungefähr acht Jahren. Ich hab ihm dann selbstgemachte Aufnahmen von meinen Kompositionen und auch Noten geschickt. Ihm hat das sehr gut gefallen. Er hat dann Stanislava Stoytcheva meine Noten gegeben. Die kannte meine Musik schon und war begeistert. Ralf ist ein genialer Produzent. Er hat so viel Gefühl für die Musik, und er kennt die technische Seite so gut. Außerdem ist er ein Weinkenner (lacht). Das lieben wir beide. Er schlug dann vor, diese Aufnahmen mit Stanislava zu machen. Ich hatte elf Klavierstücke und bereits das Klarinetten-Orchester-Konzert umarrangiert für Klavier und Klarinette.

HBK: Das ist ja ungewöhnlich. Sonst hat man eher etwas für kleine Besetzung und orchestriert es dann fürs Orchester.

JC: Ja, genau. Hier war es umgekehrt. Ich war erst skeptisch, ob die Aufnahme wirklich zustandekommen würde. Aber dann machte ich im Februar 2018 Aufnahmen in London mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Ralf kam mit Stanislava nach London und wir verbrachten einen Tag in einem schönen Probenstudio am Klavier und gingen alle Stücke durch. Da begann ich zu glauben, dass die Aufnahme wirklich stattfinden würde. Und wir blockten 10 Tage im September. Stanislava ist eine fantastische Pianistin, auf dem Niveau von Martha Argerich.

HBK: Sie verbindet offenbar ihre Fähigkeiten als klassische Pianistin mit einem guten Rhythmusgefühl.

JC: Genau. Klassische Pianisten sind meist zu rubato. Aber sie hat die rhythmischen Passagen voll durchgezogen. Dann mussten wir den richtigen Klarinettisten finden. Ich dachte erst an Eddie Daniels, aber Ralf schlug Andy Miles vor, und das war eine großartige Idee. Andy hatte meine Musik bereits gespielt, u.a. mit dem WDR Rundfunkorchester und dem Metropole Orchestra. Und Andy sagte gleich zu. Jetzt haben wir in 10 Tagen etwa 108 Minuten Musik aufgenommen.

HBK: Das sind ja fast zwei CDs.

JC: Ja, da könnte man zwei CDs draus machen, aber es soll nur eine werden. Für eine ganz jazzige Passage habe ich mich dann selbst ans Klavier gesetzt. Ralf schlug John und Hans als Rhythmusgruppe vor. Mit denen kann jeder gut spielen, sogar ich (lacht). Und das Studio ist großartig. Es hat die richtigen Vibes und einen phantastischen Flügel (Steinway D). Alles klingt wunderbar, nicht zuletzt dank Ralfs Fokus darauf, auch die letzten Details zu optimieren. Der Toningenieur Jonathan Allen kam extra aus London und hat einen Super-Job gemacht.

HBK: Spielen Sie auch Live Konzerte?

JC: Ich habe überwiegend Studio-Arbeit gemacht, aber in den letzten zwei Jahren auch öfter Live Konzerte, z.B. in Tokio und in Athen. Ich möchte mehr Live Konzerte spielen. 2019 und 2020 soll es eine Welttour geben, bei der ich meine Kompositionen und Arrangements mit Symphonieorchestern auf der ganzen Welt live spielen werde. Dabei werde ich nur mein Trio mit Pianist Christian Jacob, Bassist Kevin Axt und Schlagzeuger Ray Brinker aus Kalifornien mitnehmen. Außerdem sollen eine Sängerin und ein Sänger dabei sein, damit ich meine Arrangements für Tony Bennett und Lady Gaga aufführen kann.

HBK: Warum nehmen Sie die beiden nicht mit? (lacht)

JC (lacht): Wenn ich die mitnehme, ist es nicht mehr meine Show, sondern deren Show. Ich war der Dirigent für einige ihrer Konzerte, z.B. in der Hollywood Bowl in LA, in der Radio City Music Hall in New York City und in der Londoner Royal Albert Hall. Sie ist sehr musikalisch und hat hervorragend mit ihm gesungen. Und sie hat sich sehr um ihn gekümmert. Sie ist sehr nett, das Girl-next-Door, kein Ego. Nicht wenn sich sich wie Lady Gaga anzieht, aber im privaten. Als ich mit Tony sein Duets Album machte, sang er mit vielen Sängerinnen von Barbra bis Celine Dion. Als Danny, sein Sohn und Manager, mir damals sagte, bei einem Titel sollte er mit Lady Gaga singen, konnte ich es erst nicht glauben. Ich kannte sie nur von ihren verrückten Pop-Auftritten. Als sie dann den Song sang, war sie fantastisch. Darauf wollte Tony ein komplettes Album mit ihr machen. Eine andere Überraschung war das Duett mit Queen Latifah. Dafür habe ich dann einen Grammy bekommen. Und einen für das Duett mit Stevie Wonder. Unglaublich talentierte Künstler.

HBK: Sie haben mit sehr vielen Sängerinnen und Sängern gearbeitet. Die Pianist Benny Green sagte mir kürzlich, er wolle eigentlich nicht mit Sängerinnen arbeiten, weil sie alle Diven seien. Wie sind Ihre Erfahrungen?

JC: Ich habe immer gern Gesang begleitet, schon in meinen jungen Jahren in Argentinien. Ich habe kein Problem mit dieser Diva-Sache. Wenn man diese Arbeit macht, muss man nicht nur ein guter Musiker sein, sondern auch Psychologe und manchmal so etwas wie eine Vaterfigur. Wenn ich ein Projekt mit einer von ihnen mache, ist es für mich ein Projekt unter sehr vielen. Für sie ist es das Album ihres Lebens. Jeder Künstler hat seine Ängste und Unsicherheiten. Also muss ich mit ihnen arbeiten, ihnen ein gutes Gefühl geben, ihnen die bestmögliche musikalische Umgebung schaffen und ihnen helfen, sie selbst zu sein. Das ist meine Mission in der Zusammenarbeit. Und das funktioniert. Sie wollen meist öfter mit mir zusammenarbeiten. Mit Tony Bennett habe ich inzwischen 13 Alben seit „The Art of Excellence“ 1986 gemacht.

HBK: Das war sein Comeback-Album.

JC: Genau. Tony ist ein großartiger Mensch. Aber er ist nicht der Guy-next-Door, er ist Tony Bennett. Und so muss ich auch mit ihm umgehen. Man muss sich bewusst sein, wer er ist, und mit entsprechendem großen Respekt agieren und ihn unterstützen. Barbra gilt als sehr schwierig. Bei mir ist sie noch nie schwierig gewesen. Ein Schatz. Sie wird schwierig, wenn sie nicht mag, was sie hört. Aber wenn sie es mag, ist sie die netteste Person, die man sich vorstellen kann. Je talentierter ein Künstler ist, desto netter ist er im Allgemeinen. Yo-Yo Ma, Celine Dion, Al Jarreau, Placido Domingo – großartige Menschen, aber jeder mit seinem eigenen Stil. Mit jedem muss man anders kommunizieren. Placido Domingo zum Beispiel ist aus Spanien, also sprechen wir spanisch. Mit Rosa Passos spreche ich brasilianisches Portugiesisch, mit Tony englisch. Das macht schon viel aus. Ich liebe Sängerinnen und Sänger. Das ist wie bei einem Herzchirurgen. Seine Aufgabe ist nicht, die Persönlichkeit des Patienten zu bewerten, sondern das Herz in bestmöglicher Weise zu transplantieren. So ist das bei mir als Arrangeur auch. Wenn ich eine Aufgabe übernehme, tue ich mein Bestes, den Künstler so gut wie möglich klingen zu lassen.

HBK: Das kann offenbar nicht jeder.

JC: Oh ja. Das braucht eine spezielle Persönlichkeit. Manche Arrangeure haben selbst enorme Egos. Das führt natürlich zu Konflikten.

HBK: Es gibt weltweit nicht sehr viele wirklich gute Arrangeure für große Orchester. Musiker gibt es deutlich mehr, aber dann doch immer nur einige wenige herausragende.

JC: Das stimmt. Wenn ich Master Classes an der Berklee School of Music gebe, sage ich meinen Studenten immer, das Musikersein ist schwer, aber es reicht nicht, gut zu sein. Ihr müsst besser sein als alle anderen. Studiere so viel wie möglich. Wenn Du dann einen Auftrag für ein Arrangement bekommst, kill yourself, mache es nicht nur, so gut du kannst, sondern versuche, es besser zu machen, als es irgendjemand anderer könnte. Werde ein herausragender Musiker, differenziere dich. Dann hast du eine Chance. Es gibt nicht sehr viele Fred Herschs auf der Welt.

HBK: Fred spielte vor kurzem hier in den Riverside Studios live.

JC: Habe ich gehört. Er spielte auch mit seinem Trio in London bei der Aufnahme meines Klarinetten-Klavier-Konzerts. Er hat das komplette klassische Training und das Jazz Feeling. Christian Jacob hat einen ähnlichen Hintergrund mit klassischer Ausbildung am Pariser Konservatorium. Ich bin so glücklich, dass ich mit so hervorragenden Musikern arbeiten kann, auch in den Orchestern wie in London, Los Angeles oder New York. Als Komponist und Arrangeur kann man zwar einen Unterschied machen, aber man hängt letztlich doch von den Musikern ab.

HBK: Das war sicher der Grund, warum Ellington über Jahrzehnte sein Orchester zusammenhielt und querfinanzierte.

JC: Genau. Ein gutes Arrangement gespielt von einem mittelmäßigen Orchester klingt schrecklich, ein mittelmäßiges Arrangement gespielt von einem guten Orchester klingt ok. Nur ein gutes Arrangement mit einem guten Orchester erreicht Exzellenz.

HBK: In Köln sind wir in der glücklichen Lage, jetzt Vince Mendoza und Bob Mintzer bei der WDR Big Band zu haben.

JC: Ja. Und davor Michael Abene. Ich war schon zweimal zuvor in Köln, in meinen Zwanzigern, und vor etwa zehn Jahren. Da hatte ich Arrangements für die WDR Big Band geschrieben, die mit meinen Freund Ettore Strata als Dirigent arbeitete. Ich warte immer noch darauf, dass sie mich wieder anrufen (lacht). Ich bin bereit.

Hans-Bernd Kittlaus

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