North Sea Jazz Festival 2002
North Sea Jazz gedenkt Ray Brown
Auch das North Sea Jazz Festival in Den Haag bekam die Wirtschaftskrise zu spüren. Im Gegensatz zu den Vorjahren war es nicht schon Wochen vorher ausverkauft, schaffte dann aber doch wieder etwa 70.000 Besucher. Pop, Blues und Weltmusik waren wie immer prominent vertreten von den Sängerinnen Angelique Kidjo, Angie Stone und Chaka Khan bis zu Al Jarreau, Marcus Miller und Ike Turner. Viele Jazz Sets enthielten Widmungen an den zehn Tage vor Festivalbeginn verstorbenen Bassisten Ray Brown, von Avishai Cohens Basssolo im ersten Set bis zu Benny Greens Ansprache im letzten Set des Festivals, der Jazz at the Philharmonic Session.
Ehrungen
Der Bird Award ging in der Kategorie „Musiker, der größere Aufmerksamkeit verdient“ an den niederländischen Trompeter Eric Vloeimans. Mit dem Bird Special Appreciation Award wurde der Komponist und Keyborder Joe Zawinul ausgezeichnet, der gerade seinen siebzigsten Geburtstag feiern konnte. Zawinul konnte den Preis aus der Hand seines alten Weather Report Kollegen Wayne Shorter entgegennehmen, der dieses Jahr Artist in Residence des Festivals war. Bei seinen Auftritten an den drei Festivaltagen enttäuschte Shorter allerdings. Sein Duo Auftritt mit Herbie Hancock geriet sehr introspektiv und blutleer. Sein Quartett mit Pianist Danilo Perez, Bassist Christian McBride und Drummer Brian Blade beglückte Shorter nur mit dem Einwerfen von modalen Fetzen wie Miles Davis an schlechten Tagen, ohne aber einen ähnlich durchdringenden Sound und Charisma zu entwickeln. Phasenweise wünschte man sich, das offensichtlich spielfreudige Trio hätte sich ohne den Saxofonisten austoben können. Seit Shorter beim Verve Label unter Vertrag ist, zeigt er seine Bereitschaft, vermarktungsfähigere Sounds mit entsprechenden Formationen zu kreieren als zuvor, als er über dichten Klangteppichen immer abstrakter wurde. Doch der Den Haager Auftritt ließ vermuten, dass sein Herz an dieser Entwicklung nicht unbedingt hängt.
Der 94-jährige Altsaxofonist, Trompeter, Komponist und Arrangeur Benny Carter wurde in einem bewegenden Set des Jazz Orchestra of the Concertgebouw Amsterdam mit vielen Gästen geehrt, u.a. Toots Thielemans, Johnny Griffin und Sängerin Roberta Gambarini. Der ebenfalls angekündigte Clark Terry konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Den Haag kommen. Thielemans feierte seinen im Frühjahr begangenen achtzigsten Geburtstag mit einem sehr romantischen Set mit Pianist Kenny Werner und Gitarrist Oscar Castro-Neves. Thielemans einzigartiger Harmonika-Sound „zwischen einem Lächeln und einer Träne“ wurde u.a. in ‚Smile’ zelebriert und war besonders geeignet für eine Erinnerung an Ray Brown.
Legenden
Seit über 10 Jahren hält die Mingus Big Band gemanagt von Mingus Witwe Sue das Oeuvre des Meisters am Leben. Der Auftritt in Den Haag unter der musikalischen Leitung von Saxofonist Craig Handy belegte, dass dies mehr ist als eine Repertory Band. Das Programm bestand weitgehend aus Titeln ihrer neuen CD ‚Tonight at Noon’, die im Frühjahr zeitgleich mit dem gleichnamigen Erinnerungsbuch von Sue Mingus herauskam. Selten konnte Mingus zu Lebzeiten seine Musik in ähnlich überzeugendem Big Band Format aufführen. Tenorsaxofonist Sam Rivers, mit seinem Rivbea Studio einer Legende der New Yorker Loft Szene der 60er und 70er Jahre, bekommt sein Alterssitz in Florida offensichtlich gut. Der fast achtzigjährige zeigte sich bei seinem Auftritt mit dem jungen Pianisten Jason Moran in glänzender Verfassung. Wie schon auf der CD ‚Black Stars’, von amerikanischen Kritikern zur besten Aufnahme des Jahres 2001 gekürt, boten Moran und Rivers unter dem Namen ‚Bandwagon’ spannende Musik zwischen Historie und Avantgarde, mit Rückgriffen auf Dizzy Gillespie und gelungenen Eigenkompositionen. Dabei wurden sie von Bassist Tarus Mateen und Drummer Nasheet Waits hervorragend unterstützt. Tenorsaxofonist Archie Shepp hat seine jahrelangen Ansatzprobleme schon seit einiger Zeit überwunden und in den letzten Jahren einige seiner besten Aufnahmen vorgelegt. In Den Haag zeigte er sich ungewohnt altersmilde, sein Titel ‚Steam’, in früheren Jahren ein wütender Protestsong, wurde zu einer melancholischen Ballade. Pianistin Amina Claudine Meyers bekam viel Raum für ihren gospelgetränkten Gesang, begleitet von Bassist Cameron Brown und Schlagzeuger Ronnie Burrage.
Das klassische Jazz Piano Trio war im Vergleich zu den Vorjahren weniger prominent vertreten. Umso erfreulicher der Auftritt von Cedar Walton mit Bassist Niels Henning Oersted Pedersen und Schlagzeuger Alvin Queen. Obwohl nicht eingespielt, agierte das Trio mit einem verblüffenden intuitiven Verständnis. Queen konnte seine Vielseitigkeit auch im Trio mit Pianist Andrew Hill und Bassist Drew Gress unter Beweis stellen. Hills Musik ist eher karg, sehr dicht und erinnert gelegentlich an Mal Waldron. Wie nahtlos Queen sich hier einpasste, zeigte ihn als Meister seines Fachs. Dass ihm aber bluesige und swingende Sounds mehr Spaß machen, konnte er in einer gelungenen Session mit Tenorsaxofonlegende Johnny Griffin und dem Den Haager Publikumsliebling Roy Hargrove zeigen, die das Cedar Walton Trio als Rhythmusgruppe unterstützte. Griffin zeigte sich spielfreudig wie lange nicht mehr, bewies seine Entertainerqualitäten mit launigen Ansagen und zeigte Hargrove, wie man den Blues spielt. Zur Höchstform lief Alvin Queen schließlich in der Abschlusssession ‚Salute to Jazz at the Philharmonic’ auf. Wie so viele All Star Sessions begann auch diese eher lahm. Drummer Carl Allen war zunächst arg zurückhaltend, der zweite Drummer Bobby Durham fiel gesundheitsbedingt aus. Bassist Ray Drummond sorgte trotzdem für Swing und Tenorsaxofonist Harry Allen und Altsaxofonist Jesse Davis hatten gute Solomomente. Doch erst als Alvin Queen sich ans zweite Schlagzeug setzte, ging ein Ruck durch die Band. Er animierte Carl Allen zu einem Drum Battle, der sich dieser Herausforderung erst etwas widerwillig, doch dann mit zunehmender Begeisterung stellte. Queen kochte über vor Spielfreude und zog die Band mit sich. Herausragend dabei Pianist Benny Green und Trompeter Terell Stafford. Dies erkannte auch der wahrlich nicht schlechte Kornettist Warren Vache an, der Stafford nach einem besonders gelungenen Solo sein Instrument symbolisch zu Füssen legte.
Mit fast 80 Jahren ist Drummer Roy Haynes ein Phänomen an Beweglichkeit und Spannkraft. Für sein Charlie Parker Tribute ‚Birds of a Feather’ hatte er sich Musiker ausgesucht, die höchstens halb so alt waren wie er und ihn mit ihrer überschäumenden Spiellaune antrieben, wie er am Ende scherzhaft beklagte (‚They killed me!’). Bassist Christian McBride swingte gewaltig, Trompeter Nicholas Payton lieferte vergleichsweise coole Solos, Saxofonist Kenny Garrett bot ein gefühlvolles ‚April in Paris’. Der überragende Spieler war aber Pianist Dave Kikoski, der phantastische Läufe mit sehr perkussiven Passagen kombinierte. Er spielt schon seit 20 Jahren mit Haynes, häufig mit der Mingus Big Band und ist in den letzten Jahren zu einem der besten Pianisten seiner Generation gereift. Stehende Ovationen!
SängerInnen
Cassandra Wilson ist etwas gelungen, was nur wenige Musiker schaffen. Sie hat einen eigenen Stil kreiert, der zu ihrer Stimme und ihrer Herkunft passt und auch noch erfolgreich ist. In Den Haag erlebte man die sonst so oft melancholische Sängerin ausgelassen fröhlich, gekleidet in ein weisses Südstaatenkleid, ihre braunblonden Locken um sich werfend. Sie sang überwiegend Titel ihrer neuen CD ‚Belly of the Sun’ und ließ die Schwere der Mississippi Hitze etwa mit ‚Darkness on the Delta’ im Konzertsaal spürbar werden. Marvin Sewell an der akustischen Gitarre und Perkussionist Jeffrey Haynes harmonierten unterstützt von Mark Peterson am Baß prächtig mit Wilsons voller dunkler Altstimme. Selbst Jobims Lied ‚Waters of March’, auf der CD eher ein Fremdkörper, wirkte im Konzert bruchlos überzeugend. Eine besonders schöne Version dieses Titels hatte Oleta Adams vor einigen Jahren im Duett mit Al Jarreau aufgenommen. Den sang sie in Den Haag leider nicht. Stattdessen bot sie ein reines Popprogramm. Dabei war der Sound grauenvoll elektronisch überfrachtet, aber das tat der Begeisterung des Publikums für die in den Niederlanden sehr populäre Sängerin keinen Abbruch. Oleta Adams hat eine der schönsten Stimmen der Unterhaltungsmusik. Was könnte man daraus mit der richtigen Instrumentierung machen!
Der Auftritt Andy Beys stand unter keinem guten Stern. Der Sänger und Pianist legte in den letzten Jahren drei exzellente CDs vor, zuletzt ‚Tuesdays in Chinatown’, die seine Ausdrucksstärke belegen. Doch seine Stimme zwischen Bariton und hoher Kopfstimme braucht perfekte Aussteuerung. Dies gelang den Technikern in Den Haag nicht. Getrübt wurde die Stimmung weiterhin durch ein unsinniges Zusammenlegen seines Sets mit einer Performance des Entertainers Michael Franti, des Kopfs der populären Gruppe Spearhead. Franti sollte laut Programm solo Gedichte vortragen, brachte dann aber drei Musiker mit und machte aus seinem Auftritt ein Mitsingprogramm. Das passte zu Andy Beys intimem Vortragsstil überhaupt nicht. Bey sang nach kurzer Pause einige schöne Balladen, doch die Stimmung war nicht mehr zu retten. Nach vierzehn Jahren trat die Sängerin Dianne Schuur erstmalig wieder in Den Haag auf. Nach Karriereknick und Alkoholentziehungskur konnte man eine gereifte Sängerin erleben, die wesentlich intelligenter als früher mit ihren stimmlichen Fähigkeiten operierte. Während sie früher in mittleren Lagen stark gepresst klang, ging sie diese Töne jetzt leichter, eher im Stil einer Cool Jazz Sängerin an, während sie in der Höhe ihren unverwechselbaren Sound bewahrt hat. Ihr Programm bestand überwiegend aus Standards, auch ihr Erkennungslied ‚Deedles’ durfte natürlich nicht fehlen. Ein erfreuliches Comeback!
Hein van de Geyn, international bekannt durch seine mehrjährige Zusammenarbeit mit Dee Dee Bridgewater, die in Den Haag mit ihrem Kurt Weill Programm begeisterte, hat sich zu einem der besten Bassisten Europas entwickelt und ist in den Niederlanden auch als Musiklehrer und Produzent sehr aktiv. Er trat im Duo mit der Sängerin Pauline van Schaik auf, einer jungen Dame mit sehr schöner, sehr weisser Gesangsstimme. Gemeinsam zelebrierten sie Standards von ‚Sleeping Bee’ bis ‚Tenderly’, dem Titelsong ihrer gemeinsamen CD. Van de Geyn brillierte mit gefühlvoller Begleitung und virtuosen Solos, van Schaik sang unspektakulär und doch fesselnd. Eine Darbietung von großer Intimität! Greetje Kauffeld ist seit vielen Jahren die wohl beste europäische Jazz Sängerin klassischen Stils. In Den Haag trat sie mit Saxofonist Ferdinand Povel und dem Cees Slinger Trio auf, mit denen sie gerade eine neue Live CD ‚Devil May Care’ vorgelegt hat. Keine Überraschungen, aber mitreissender swingender Jazz Gesang. Die potentielle Nachfolgerin auf dem Thron des europäischen Jazz Gesangs trat gleich im nächsten Set auf. Die Italienerin Roberta Gambarini ist allerdings nicht wie Greetje Kauffeld in ihrem Heimatland geblieben, sondern lebt schon seit drei Jahren in New York. Sie hat jetzt mit Eric Gunnison einen festen Pianisten, der schon Carmen McRae viele Jahre begleitete, und mit Dave Pike einen Manager, der das Jazz Business gut kennt. Damit sind die Weichen für internationalen Erfolg gestellt. Die stimmlichen Fähigkeit dazu hat sie allemal, wie sie in Den Haag unter Beweis stellte. Sie sang Standards, darunter so vergessene wie ‚Deep Purple’, und lieferte eine hinreissende Version von ‚Lush Life’, die selbst Jimmy Woode, der als ex-Ellington Bassist den Titel sicherlich Hunderte von Malen gespielt und gehört hat, sichtlich begeisterte.
Zukunft
Ähnlich wie die Großveranstaltungen in Montreux oder New Orleans ist auch North Sea über die letzten 10 Jahre immer mehr zu einem allgemeinen Musikfestival geworden, bei dem Jazz nur noch aus Marketinggründen als Oberbegriff verwendet wird, aber nicht das gebotene Programm gesamthaft beschreibt. Solange dabei noch genug Raum bleibt für Gruppen wie etwa Vandermark 5, dem brillianten Quintett des Chicagoer Tenorsaxofonisten Ken Vandermark, der – in Europa kaum bemerkt – zur Frontfigur der neuen amerikanischen Avantgarde geworden ist, kann der Jazz Fan mit dieser Entwicklung leben. Doch die kommerziellen Zwänge gehen weiter. So sind die Preise für Tages- bzw. 3-Tages-Karten in den letzten Jahren stetig gestiegen, die 3-Tages-Karte lag dieses Jahr bei €125,-. Deutlich stärker sind die Preise für Zusatzkonzerte angezogen. Am drastischsten zeigt sich der Preisanstieg beim Essen und Trinken, was dazu führt, dass es immer mehr Selbstversorger auf dem Festival gibt. Der Anteil der jugendlichen Besucher ist zurückgegangen, was sicher auch mit den Preisen zusammenhängt. Gleichzeitig haben die Organisatoren die Zahl der Sets pro Bühne und Abend reduziert. Waren es früher fünf bis sechs Sets, wurden dieses Jahr auf manchen Bühnen nur noch vier Sets am Abend geboten. All dies sind unerfreuliche Entwicklungen, die die Attraktivität des Festivals beeinträchtigen.
Trotzdem war das Festival hinsichtlich Programm und Organisation auch dieses Jahr wieder gelungen. Niederländischen und internationalen Nachwuchsmusikern wurden vielfältige Auftrittsmöglichkeiten geboten, es gab interessante Schienen wie etwa East meets Jazz (u.a. mit Aziza Mustafa Zadeh), Brasil Electrico oder eine italienische Schiene unter dem Namen ‚La Vita e Bella’. Die Organisation funktionierte gewohnt gut. Viel Missmut rief allerdings hervor, dass die Organisatoren eine unsinnige Idee von anderen Festivals aufgriffen und alle Musiker, Dienstleister und Journalisten mit bunten Plastikarmbändern kennzeichneten. Das führte dazu, dass etwa Sängerinnen zu ihrem gediegenen Night Club Outfit ein stilvolles leuchtend blaues Plastikarmband tragen mussten. Journalisten wurden gezwungen, diese Armbänder gleich drei Tage anzubehalten, was zu bösen Vergleichen mit der Kennzeichnung von Tieren führte. Die Organisatoren in Den Haag und anderswo sollten doch die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen besser bedenken.
Nachdem das Den Haager Kongresszentrum, das seit Jahren defizitär ist, jetzt verkauft wurde, tragen sich die neuen Besitzer mit Umbauplänen. So soll die Statenhal, die 9000 Menschen fasst und die Bühnen für die pop-orientierten North Sea Acts bietet, abgerissen und durch ein Bürogebäude ersetzt werden. Dies würde dem North Sea Jazz Festival die kommerzielle Basis nehmen. Daher gab es Gerüchte, dass das Festival eventuell nach Utrecht umziehen könnte. Die North Sea Organisatoren stellten klar, man habe noch einen laufenden Vertrag mit dem Kongresszentrum bis 2005 und wolle sich im September mit den Verantwortlichen des Kongresszentrums und der Stadt Den Haag zusammensetzen, um über zukünftige Möglichkeiten für das Festival in Den Haag zu sprechen. Die nächste Ausgabe von North Sea Jazz soll vom 11. bis 13. Juli 2003 am gewohnten Ort stattfinden.
Hans-Bernd Kittlaus