NSJF 2011

North Sea Jazz Festival 2011
Überdurchschnittlicher Jahrgang

pdf[1](erschienen 9/2011)

 

Selbst eine massive Erhöhung der niederländischen Mehrwertsteuer auf Konzerttickets konnte den Publikumszuspruch für die 36. Ausgabe des North Sea Jazz Festivals im Rotterdamer Ahoy Zentrum nicht wesentlich beeinträchtigen. Garant dafür war ein exzellentes Programm, das Pop-Stars wie Paul Simon, Snoop Dogg, Chaka Khan und Seal ebenso beinhaltete wie Jazz-Historisches mit Chick Coreas Return to Forever oder dem Tribute zu Miles Davis’ zwanzigstem Todestag mit Herbie Hancock, Wayne Shorter und Marcus Miller. Spektakulär waren die Auftritte von Prince an allen drei Festivaltagen im Anschluss ans normale Festivalprogramm.

Schwerpunkte

Statt des Artist-in-Residence der letzten Jahre gab es diesmal jeweils eine Carte Blanche für zwei Musiker, den niederländischen Hiphop Trompeter Kyteman und den amerikanischen Saxofonisten Rudresh Mahanthappa. Beide konnten an jedem der drei Festivaltage mit einer Gruppe ihrer Wahl auftreten. Kyteman, mit bürgerlichem Namen Colin Benders, präsentierte überraschenderweise an einem Abend das Klavier-Trio seines französisch-amerikanischen Onkels Jacky Terrasson, der die Chance nutzte, sich den pop-orientierten Fans seines Neffen mit überzeugendem Jazz vorzustellen. Mahanthappa bestritt einen Abend mit seinem APEX Quintett mit Saxofon-Altmeister Bunky Green, das nach seinem triumphalen Auftritt in Salzau auch in Rotterdam mit dichtem Ensemble-Spiel und energiegeladenen Soli begeisterte. Mahanthappas indische Wurzeln schienen bei seinen weiteren Auftritten mit der Indo-Pak Coalition sowie der Gruppe Samdhi stärker durch. Thematische Schwerpunkte bildeten die Themen „Electronic Jazz“ – u.a. mit dem diesjährigen Gewinner des Paul Acket Awards, dem norwegischem Trompeter Arve Henriksen – und „Infused“, worunter die kreative Verbindung von Jazz mit Rock- und Funk-Elementen verstanden wurde. Dabei überzeugte vor allem das amerikanische Quartett Mostly Other People Do The Killing mit ihrem humorvollen wilden Mix von Traditional bis Free Jazz und Rock und inspirierten Soli von Trompeter Peter Evans und Saxofonist Jon Irabagon. In einem zweiten Auftritt rekreierten sie gemeinsam mit einer holländischen Gruppe unter Leitung von Bassist Arjen Gorter den Five Spot Auftritt des Eric Dolphy Quintetts zu dessen fünfzigstem Jahrestag und bewiesen dabei ihre tiefe Verwurzelung im klassischen Jazz. Auch das Quartett des italienischen Saxofonisten Francesco Bearzatti mischte modernen Jazz mit Rockelementen, wobei Trompeter Giovanni Falzone mit seinen feurigen Soli besonders gefallen konnte. Sieger der European Jazz Competition für Nachwuchsbands wurde das finnische Vibraphontrio Herd, als bester Solist – und Nachfolger des Preisträgers 2009, des deutschen Schlagzeugers Jonas Burgwinkel – wurde der niederländische Pianist Thierry Castel ausgezeichnet. Deutsche waren diesmal nicht an dem Wettbewerb beteiligt.

Highlights

Das Festival begann gleich mit einem Höhepunkt: heftigst angetrieben von ex-Wynton Marsalis-Schlagzeuger Herlin Riley und Perkussionist Manolo Badrena lieferte der 81-jährige Pianist Ahmad Jamal mitreissende Dynamikwechsel, virtuose Läufe und ansteckenden Swing. Der Versuch, Saxofonist Pharoah Sanders aus seinen gewohnten Bahnen durch Verbindung mit dem Trio des jungen Pianisten Robert Glasper herauszuholen, schlug hingegen völlig fehl. Es kam nicht zu einer Annäherung der Generationen, sondern Sanders spielte ein ums andere Mal seine Soli ohne Klavierbegleitung, um dann für längere Phasen ganz die Bühne zu verlassen. Das einzig interessante an dem Set war zu sehen, wie Glasper und seine Mitspieler sich selbst überraschten im Umgang mit den ungewohnten Songs bis hin zu „A nightingale sang in Berkeley Square“, die Sanders ihnen vorgab. Glücklicherweise konnte Sanders am nächsten Abend mit dem Mulgrew Miller Trio auftreten, mit dem er wesentlich besser harmonierte. Ein eindrucksvolles Debut feierte der Sänger Gregory Porter, der trotz einer für seine Musik ungeeigneten Bühne zu überzeugen vermochte. Gut begleitet vom Trio des niederländischen Pianisten Peter Beets bestach Porter mit seiner warmen, aber druckvollen Baritonstimme und Songs, die von Standards bis zu seiner Eigenkomposition „1960 What?“ reichten.

Brad Mehldau und Joshua Redman spielten im Duo mit größter Einfühlsamkeit und harmonischer Raffinesse und generierten Vorfreude auf ihre Duo-Auftritte in Deutschland im Herbst. Tenorsaxofonist Charles Lloyd verzauberte das Publikum mit spirituellen Momenten, wobei Pianist Jason Moran sich als kongenialer Mitstreiter erwies und nach seinem schwachen Trio-Auftritt im Jahr 2010 rehabilitierte. Meisterpianist Barry Harris spielte einen bewegenden Set mit Bassist Ray Drummond und Schlagzeuger Leroy Williams, in dem er keinen Hehl aus seiner Meinung machte, dass die überwiegende Mehrzahl der Gruppen auf dem Festival keinen Jazz in der Tradition Charlie Parkers spielten, sondern man ständig nur Rock-Rhythmen höre. Das konnte man von Dave Douglas’ Gruppe Tea for Three nicht behaupten. Der sonst manchmal etwas kopflastige Trompeter hatte sichtlich Spaß an dem Vollblut-Jazz seiner Band. Pianist Uri Caine, Bassistin Linda Oh und Schlagzeuger Clarence Penn legten ein pulsierendes Rhythmusfundament, über dem Douglas und seine Trompetenkollegen Avishai Cohen und Enrico Rava inspirierte Soli bliesen. Ähnlich brilliante Schlagzeugarbeit wie Penn lieferte auch Gerald Cleaver im Set des jungen Bassisten Chris Lightcap. Mit Craig Taborn am Fender Rhodes und den Tenorsaxofonisten Tony Malaby und Chris Cheek hatte er drei herausragende New Yorker Avantgarde Musiker dabei, die die relativ braven Arrangements mit ihren Soli aufpeppten. Wesentlich freier ging es hingegen in der Gruppe des jungen Tyshawn Sorey zu, der neben seinem Schlagzeug ein riesiges Arsenal von Perkussionsinstrumenten plus Vibraphon und Posaune einsetzte und mit Pianist John Escreet, Michael Moore an Klarinette und Saxofon sowie Taylor Ho Bynum an Trompete und Posaune mutig improvisierte. Im Set des Saxofonisten Branford Marsalis zeigte der junge Schlagzeuger Justin Faulkner, dass er inzwischen die großen Fußstapfen seines Vorgängers Jeff Tain Watts auszufüllen weiß. Er exerzierte Power Drumming verbunden mit großer Musikalität und half Neuzugang Orlando Le Fleming am Bass bei seinem zweiten Auftritt mit der Band. Pianist Joey Calderazzo flog über die Tasten und unterstützte Marsalis bei seinen durchdachten Soli an Tenor- und Sopransaxofon. Als Zugabe huldigten sie der Jazz Tradition mit „St. Louis Blues“.

Etwas Besonderes war der Auftritt der Peace Hotel Jazz Band aus Shanghai, die schon in der ersten Hälfte des 20-sten Jahrhunderts in dem Luxushotel spielte. Die Musik der alten chinesischen Musiker bewegte sich im Stil der 20er Jahre und hatte ihre eigene Würde, auch wenn nicht jeder Ton saß und der Schlagzeuger mitunter Mühe hatte, den Beat wiederzufinden. Makellos war dabei der Auftritt der jungen Sängerin Jasmine Chen, die mit großer Musikalität, gediegener Phrasierung und akzentfreier englischer Aussprache amerikanische Standards und chinesische Songs sang. Der Kölner Bassist mit mazedonischen Wurzeln, Martin Gjakonovski, erlebte eine Sternstunde in Rotterdam. Ursprünglich sollte er den Auftritt der amerikanischen Klarinetten-Legende Buddy de Franco begleiten. Als der dann krankheitsbedingt absagte, sprang Tenorsaxofonist Joe Lovano ein. So konnte Gjakonovski zunächst im Trio mit dem virtuosen italienischen Pianisten Antonio Farao und dem dynamischen deutsch-serbischen Schlagzeuger Dejan Terzic seine rhythmische Vielseitigkeit demonstrieren, bevor Lovano einstieg. Das Trio behauptete sich bestens gegen die dominante Präsenz des New Yorker Tenorsaxofonisten, der zu der heftig swingenden Musik Tänze auf der Bühne à la Monk aufführte. Wenig später hatte Gjakonovski Gelegenheit, George Mraz zu vertreten, der sich am Morgen den Arm gebrochen hatte. In der brillianten Band mit Schlagzeuger Al Foster, Pianist Fred Hersch und Saxofonist Eli Degibri wirkte Gjakonovski keineswegs wie ein Neuling, sondern überzeugte durch mannschaftsdienliches Spiel und durchdachte Soli. Die Gruppe spielte ein Tribute an Joe Henderson, wobei Degibri phasenweise wesentlich lebhafter und druckvoller wurde, als Henderson das üblicherweise war. Fred Hersch trug meisterhafte Soli voll lyrischer Kraft bei. Den endgültigen Ritterschlag erhielt Gjakonovski am Ende durch die warmherzigen Dankesworte von Foster und den begeisterten Applaus des Publikums und des als kritisch bekannten Fred Hersch.

Erneut konnten Jan Willem Luyken und sein Organisationsteam zufrieden sein mit dieser Festivalausgabe, dem Publikumszuspruch und dem idealen Festivalwetter. Das Konzept, die Zahl der Bühnen um zwei auf elf zu verringern, aber bei einigen mehr Zuschauerkapazität zu schaffen, wurde angenommen. Mehr als die mehrwertsteuerbedingte kräftige Ticketpreiserhöhung störte im Vorfeld die Ticketmaster Web Site, die bei Beginn des Vorverkaufs der Prince Tickets völlig zusammenbrach, aber auch sonst erschreckende funktionale Probleme zeigte. Das nächste Festival ist vom 6. bis 8. Juli 2012 geplant.

Hans-Bernd Kittlaus