North Sea Jazz Festival 2004
North Sea Jazz vor Veränderungen
Nach dem leichten Rückgang der Besucherzahlen im vergangenen Jahr war das North Sea Jazz Festival dieses Mal schon vor Beginn restlos ausverkauft. So konnten in drei Tagen etwa 70.000 Besucher verzeichnet werden. Verantwortlich für diesen Ansturm war vor allem die attraktive Pop- und Soul-Schiene von Santana über Elvis Costello bis Al Jarreau und von Alicia Keys über James Brown bis zu Patti LaBelle. Das Jazz-Programm bot neben Bewährtem eine Reihe von spannenden Entdeckungen. Widerstand macht sich in Den Haag gegen den beschlossenen Umzug des Festivals nach Rotterdam im Jahr 2006 bemerkbar, doch er dürfte zu spät kommen.
Saxofonisten
Der diesjährige Artist-in-residence Michael Brecker trat gleich viermal in verschiedenen Formationen auf. Am interessantesten war dabei sein Quindectet, eine Art kleine Big Band unter Leitung des Pianisten und Arrangeurs Gil Goldstein. Joshua Redman mühte sich redlich, konnte aber der All Star Formation mit Pianist Brad Mehldau, Bassist Larry Grenadier, Schlagzeuger Ali Jackson und Gitarrist Kurt Rosenwinkel keinen rechten Drive verleihen. Rosenwinkel dominierte die Gruppe mit seinem eigenwilligen Gitarren-Sound, wirkte aber gleichzeitig abwesend, als spielte er für sich allein. Branford Marsalis bot hingegen einen brillianten Set mit seiner bestens eingespielten Band mit Pianist Joey Calderazzo, Bassist Eric Revis und Drummer Jeff Tain Watts. Seine Version von „Gloomy Sunday“ war ein Meisterwerk, das demonstrierte, dass er nach optimaler Verbindung von Form und Ausdruck strebte, und nicht mehr zeigen wollte, was er alles kann. Letzteres kann man von James Carter noch nicht behaupten. Der wohl talentierteste lebende Saxofonist diesseits von Sonny Rollins hatte mit dem Trompeter Dwight Adams einen soliden Mitspieler dabei, den er fortgesetzt an die Wand spielte. Das war imposant, aber musikalisch hinterließ der Set eine gewisse Leere. Welch ein Vergnügen bot dagegen das Zusammenspiel zweier Altmeister des Altsaxofons, Bud Shank und Phil Woods. Begleitet vom exzellenten Trio des Pianisten Bill Mays verzichteten die beiden auf wilde Battles, sondern konzentrierten sich auf die Schönheit ihrer Musik und ihre individuellen Sounds. Joe Lovano neigt nicht zu Gefühlsausbrüchen, doch seine Freude am Zusammenspiel mit Pianist Hank Jones, Bassist George Mraz und Schlagzeuger Dennis Mackrel war deutlich spürbar. Sie spielten ein Programm aus Balladen ihrer sehr gelungenen gemeinsamen CD ‚I’m All For You’, bei dem vor allem Jones brillierte. Seine Meisterschaft über die harmonischen Möglichkeiten des Klaviers, sein charakteristischer Anschlag und seine Improvisationsfreude boten wieder einmal Genuss pur. Seine offensichtliche geistige und körperliche Frische waren durch seine gesundheitlichen Probleme im letzten Jahr und den kürzlichen Tod seines Bruders Elvin ungetrübt und spotteten seinen fast 86 Lebensjahren Hohn.
Renaissance der Form?
Der Jazz lebt seit jeher vom Spannungsfeld zwischen Komposition und Improvisation, zwischen strenger Form und großer Freiheit. Die Kunst des Arrangeurs liegt darin, den rechten Weg zwischen diesen Polen zu finden. Einer der Meister in dieser Kunst ist John Clayton, wohlbekannt als Bassist wie auch als Dirigent, etwa der WDR Big Band. Nach Den Haag brachte er erstmals das Clayton Hamilton Jazz Orchestra, eine Big Band, die seit Jahren regelmäßig in Los Angeles zu erleben ist, aber noch nie zuvor in Europa war. Sie wird geleitet von John und seinem Bruder, dem Altsaxofonisten Jeff Clayton, sowie Schlagzeuger Jeff Hamilton. Claytons abwechslungsreiche Arrangements passten wie angegossen auf diese teuflisch swingende Band und boten immer wieder Freiräume für solistische Einlagen der Leader, aber auch von so herausragenden Band-Mitgliedern wie Trompeter Snooky Young, Posaunist George Bohannon und Tenorsaxofonist Rickey Woodard. Pianistin Carla Bley ist berühmt für ihre komplexen Arrangements. Sie kam nicht mit eigener Formation, sondern mit Bassist Charlie Hadens New Liberation Music Orchestra, das in Den Haag seinen zweiten Auftritt überhaupt bestritt. Bleys Arrangements forderten den Musikern so viel Konzentration ab, dass der Set trotz namhafter Besetzung arg steif blieb. Während der New Yorker Pianist Fred Hersch sich in seinem Duo mit Trompeter Kenny Wheeler kammermusikalischem Wohlklang auf höchstem Niveau hingab, ging es in seinem Trio + 2 wesentlich dynamischer zur Sache. Mit Bassist Drew Gress, dem sehr melodisch spielenden Schlagzeuger Matt Wilson, Trompeter Ralph Alessi und Tony Malaby mit seinem warmen Tenor-Sound brachte Hersch einige der gefragtesten New Yorker Musiker zusammen, die Herschs Ansatz aus Komposition und Arrangement in aufregende Musik verwandelten und zu einem Highlight des Festivals machten.
Pianisten
Pianist David Berkman gehört ebenfalls zu den interessanteren New Yorker Komponisten, verfolgte aber live einen stärker auf Improvisation ausgerichteten Ansatz als Hersch. Mit Bassist Ugonna Okegwo, Schlagzeuger Gerald Cleaver und vor allem Saxofonist Dick Oatts brachte er eine aufregende Band nach Den Haag, die seine Kompositionen in brodelnde Ensemble-Improvisationen umsetzte. McCoy Tyner brachte gewohnt energiegeladen seinen Flügel zum orchestralen Singen. Sein Bassist Charnett Moffett zeigte sich mit Bogen wie auch mit publikumswirksamer Slap-Technik als immer stärker werdendes solistisches Gegenüber zum Pianisten. Bill Mays ist ein Vertreter des klassischen Klaviertrios in der Tradition eines Jimmie Rowles oder Hank Jones. Mit seinem deutschen Bassisten Martin Wind und Schlagzeug-Legende Joe LaBarbera zelebrierte er geschmackvoll swingenden Jazz, der gespickt war mit intelligenten Wendungen und Zitaten. Seit Michel Camilo seine Macho-Allüren besser im Zaum hält, gehört er zu den wichtigsten zeitgenössischen Pianisten. Seine langjähriges Trio mit Bassist Charles Flores und Drummer Horacio El Negro Hernandez lief sofort auf Hochtouren, wobei Camilo seine stupende Technik immer in den Dienst der Musik stellte. Er beschränkte sich keineswegs nur auf Latin Jazz, sondern spielte auch überzeugende Bebop-Titel, aber gepfeffert mit seinem karibischen Temperament.
Entdeckungen
Der niederländische Bassist Joris Teepe lebt seit langem in New York, ist aber auch Leiter der Jazz Abteilung des nordniederländischen Konservatoriums der Universität Groningen. Als Dozenten verpflichtet er vorzugsweise gestandene New Yorker Jazz-Musiker, die er dieses Jahr unter dem Namen „New York Comes to Groningen“ als Gruppe vorstellte. Schlagzeuger Ralph Peterson trieb die Band in modernisierter Art-Blakey-Tradition mit einer Energie an, die Musiker wie Publikum mitriss. Trompeter Brian Lynch zeigte sich mit feurigen Solos in Top-Form, und auch Saxofonist Don Braden, Pianist David Berkman und Gitarrist Ron Jackson steuerten inspirierte Solos bei. Für ruhigere Momente sorgte dabei die Sängerin und Pianistin Dena DeRose, etwa mit dem treffenden Titel ‚I’m Old-Fashioned’. Das Duo Raw Materials besteht aus dem Pianisten Vijay Iyer und dem Altsaxofonisten Rudresh Mahanthappa, beides amerikanische Musiker indischer Herkunft, die in den letzten Jahren mit ihren CD-Veröffentlichungen Aufmerksamkeit in den USA erzielen konnten. In Den Haag demonstrierten sie ein erstaunlich reifes musikalisches Konzept, das sich zwischen Charlie Parker und Neuer Musik aufspannte und auf der Basis intelligent ausgefeilter Kompositionen genügend Raum für solistische Ausflüge ließ. Dabei war das indisch-asiatische Erbe zumeist nur unterschwellig zu spüren, etwa im Rhythmus. Mahanthappa bließ sein Saxofon virtuos mit eigentümlich überstrecktem Nacken, aber mit schönem Ton. Iyer zeigte sich als überzeugender Pianist, besonders wann immer er die Kopflastigkeit überwand. Das Trio The Bad Plus konnte in den letzten zwei Jahren überraschend großen Erfolg und heftige Kontroversen in den USA verbuchen. In Den Haag mischten sie die Klaviertrio-Tradition in einer Weise auf, die an die deutsche Musikkomikergruppe Ars Vitalis erinnerte, aber wohl weniger von anarchischem Humor als vielmehr von dem Versuch geprägt war, Jazz und Rock auf neue Art miteinander zu kombinieren. Während Pianist Ethan Iverson der Jazz-Tradition noch am meisten entsprach, pendelte Drummer David King übergangslos zwischen Jazz und Rock, was manchmal genial und manchmal dilletantisch wirkte. Bassist Reid Anderson übernahm dabei die schwierige Rolle des rhythmischen Verbindungsgliedes. Keine Musik für Jazz-Puristen, aber das Den Haager Publikum war begeistert. Auch der englische Shooting Star Jamie Cullum erzielte großen Publikumserfolg mit dem Versuch, Jazz und Pop auf neue Weise miteinander zu kombinieren. Seine sympathisch interessante Gesangsstimme in Verbindung mit seinem akzeptablen Klavierspiel bildete die Grundlage für ein kleveres Programm aus Standards wie ‚I get a kick out of you’ und Eigenkompositionen wie ‚Twentysomething’, die auch textuell ein junges Publikum ansprachen. Die Arrangements des Bassisten Geoff Gascoyne wurden live im Trio mit Schlagzeuger Sebastiaan de Krom nicht ganz so ausgefeilt umgesetzt wie auf CD, doch Cullum wickelte sein Publikum mit der Bühnenpräsenz des geborenen Entertainers um den kleinen Finger.
Der Bird Award ging dieses Jahr in der Kategorie „Musiker, der größere Aufmerksamkeit verdient“ an den niederländischen Gitarristen Martijn van Iterson. Der Special Appreciation Award wurde dem legendären Toningenieur Rudy van Gelder zugesprochen, der ihn allerdings nicht persönlich in Empfang nahm. Die Organisatoren des Festivals konnten mit dem reibungslosen Ablauf wie auch mit dem Publikumszuspruch hoch zufrieden sein. Auch die Verkürzung des Programms von täglich 8 auf 7 Stunden schien niemanden zu stören. Unmut regte sich allerdings über die Entscheidung, das Festival ab 2006 im Veranstaltungszentrum Ahoy im Süden von Rotterdam weiterzuführen, weil ein Teil der Hallen des Den Haager Kongresszentrums der Spitzhacke zum Opfer fallen wird. Leider konnte die Stadt Den Haag keine akzeptablen alternativen Veranstaltungsort bieten. So wird das North Sea Jazz Festival mit seiner dreißigsten Ausgabe vom 8. bis 10. Juli 2005 zum letzten Mal in Den Haag stattfinden.
Hans-Bernd Kittlaus