NSJF 1998

North Sea Jazz Festival 1998
Stürmisches North Sea ‘98

pdf[1](erschienen 9/1998)

 

Das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft kostete das North Sea Jazz Festival nur etwa 1000 Tagestickets, so daß sich insgesamt 68000 Zuschauer an drei Tagen dem Jazz und verwandten Musikrichtungen hingeben konnten. Nicht ganz so glimpflich überstanden die Organisatoren einen über Den Haag hinwegziehenden Sturm, der am letzten Festivaltag den ausgeklügelten Zeitplan des Festivals stärker als je zuvor in der 23-jährigen Geschichte des North Sea Jazz Festivals durcheinanderbrachte.

SängerInnen

Der Jazz Gesang ist seit einigen Jahren in Den Haag sehr stark vertreten und wird auch vom Publikum sehr gut angenommen. Dieses Mal fehlten die jüngeren männlichen Vertreter des Faches, neben Al Jarreau hielt nur Lou Rawls die Stellung mit Bewährtem von ‘Lady Love’ bis ‘Fine Brown Frame’. Seine samtige Baritonstimme, in ihrem Wiedererkennungswert kaum zu übertreffen, kann dem Zahn der Zeit noch gut widerstehen und entschädigte für die mittelmäßige Begleitband, aus der nur Gitarrist David T. Walker mit einigen guten Solos herausragte. Die Sängerinnen hingegen waren zahlenmäßig wesentlich stärker präsent. Die alte Dame des Scat Gesangs Betty Carter konnte das Publikum mit ihrem eigenwilligen Gesangsstil überzeugen, auch wenn sie nicht den Drive und die Dynamik vergangener Jahre entwickelte und mit ihrem neuen unerfahrenen Trio zu kämpfen hatte. In guter Form zeigten sich Dianne Reeves, die Trompeter Nicholas Payton zu Gast hatte, sowie Cassandra Wilson, die nicht etwa ihr neues Miles Davis Programm darbot, sondern Blues-getränkte Songs, die stark geprägt waren von ihrem neuen Gitarristen Marvin Sewell. Im Tribute to Mahalia Jackson trat Mavis Staples im Duo mit Lucky Peterson auf, der sie an Klavier und Orgel begleitete. Höchst inspiriert und mitreißend feierten sie bewährte Gospel und Spirituals. Diana Krall sang und spielte ihr Standards Programm mit exzellenter Unterstützung von Bassist Ben Wolfe und Gitarrist Russell Malone, der auch in seinem eigenen Set zu begeistern wußte. Carmen Lundy hat zweifellos viel Jazz Feeling, doch wurde der Genuß immer wieder gestört durch den krassen Bruch zwischen ihrer Kopf- und Bruststimme, den sie technisch nicht in den Griff bekam. Die überzeugendsten Gesangsdarbietungen standen beide unter der Überschrift ‘Tribute to Ella (Fitzgerald)’. Dee Dee Bridgewater zelebrierte ihre Huldigung mit dem Ray Brown Trio mit Drummer Greg Hutchinson und Pianist Geoff Keezer, der dem Trio einen etwas weicheren Sound gab als der bisherige Pianist Benny Green. Dee Dee zeigte sich bester Stimmung und glänzte mit Titeln wie ‘I’m beginning to see the light’ und ‘Mack the knife’. Marlena Shaw wird nicht unbedingt zur ersten Garde der Jazz Sängerinnen gezählt, doch präsentierte sie sich in Top Form und fiel keineswegs ab gegen ihre Mitspieler Vibrafonist Milt Jackson, Posaunist Slide Hampton, Trompeter Jon Faddis, Saxofonist Frank Foster, Pianist Kenny Barron (für den erkrankten Tommy Flanagan), Bassist Keter Betts und Schlagzeuger Grady Tate. Eine wahre Dream Band, mit der sicherlich auch Ella gern aufgetreten wäre!

Highlights

Kenny Barron war nicht nur mit der Ella Tribute Band, sondern auch solo und im Duo mit dem Bassisten Charlie Haden zu hören. Er gehört zweifellos in der Nachfolge etwa eines Hank Jones zu den großen Piano Stilisten unserer Zeit. Sein Zusammenspiel mit Charlie Haden strömte viel Vertrautheit und Seelenverwandtschaft aus, mit schlafwandlerischer Sicherheit spielten sich die beiden die musikalischen Bälle zu. Das Ergebnis war Musik von seltener Schönheit. Wesentlich lauter, aber nicht weniger musikalisch war der Auftritt des Wallace Roney Quintetts mit Bruder Antoine Roney am Saxofon, seiner Ehefrau und Pianistin Geri Allen, Bassist Buster Williams und Schlagzeuger Lenny White. Die Gruppe harmonierte prächtig auf höchstem Energie Niveau. Wallace Roney bestach mit durchdachten Solos und seinem immer intensiveren Sound. Er findet zunehmend seine eigene Stimme an der Trompete. Diese eigene Stimme hat Charles Lloyd am Tenorsaxofon schon lang. Auch in Den Haag gelangen ihm mehrfach Momente von meditativer Qualität auf hohem musikalischen Niveau. In seinem Quartett stach vor allem Pianist Bobo Stenson mit seinen kreativen Läufen hervor. Dave Holland konnte mit seinem Quintett entgegen der ursprünglichen Planung auf der größten Bühne des Den Haager Kongreßzentrums auftreten und hatte keine Schwierigkeiten, den Raum mit Musik zu füllen. Vor allem Posaunist Robin Eubanks demonstrierte seine zunehmende Reife als Solist. Den Schlußpunkt des diesjährigen Festivals setzte Saxofonist Kenny Garrett mit einem mitreißenden Set. Musikalischer Höhepunkt war dabei ‘Giant Steps’, in dem Garrett seinem Vorbild John Coltrane nacheiferte und fulminant gegen den harten treibenden Beat seines Schlagzeugers Chris Dave improvisierte. Am Ende spielte Garrett funky und ließ das Publikum nach über 25 Festivalstunden noch einmal tanzen.

Organisation im Sturm

Das Den Haager Festival bietet auf 14 Bühnen parallel Musik. Damit steht und fällt der Genuß der Zuschauer mit der Einhaltung der Zeitplanung auf allen Bühnen, da sie anderenfalls ihre anhand des Zeitplans gemachte persönliche Festivalplanung nicht einhalten können und ärgerliche Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. An den ersten zwei Festivaltagen hielten sich Verspätungen in Grenzen, doch am dritten Tag erwischte es die Organisatoren voll. Aufgrund von Reiseverspätungen begann Betty Carter später, McCoy Tyners Set mußte sogar verschoben werden. Als schließlich die Dachterrasse wegen des starken Sturms über Den Haag geschlossen werden mußte, wurde es vollends unübersichtlich. Zwar reagierten Theo van den Hoek und sein Team schnell und setzten die drei auf der Dachterrasse geplanten Sets auf anderen Bühnen an, doch gelang es nicht, diese Änderungen gut zu kommunizieren. Dabei waren die Voraussetzungen für die Kommunikation eigentlich günstig, gab es doch ein dichtes Monitornetz im Kongreßzentrum. Es mangelte jedoch offensichtlich an einem durchdachten Konzept für diese besondere Situation. Auf den Monitoren wurde unsinnigerweise weiter über die planmäßig laufenden Konzerte informiert, die sowieso jeder Zuschauer in seinem Zeitplan sah, nicht aber schwerpunktmäßig über die Änderungen. Dadurch waren viele Besucher, die sich auf die Konzerte von John Zorn, Dave Holland oder Kenny Garrett gefreut hatten, zunehmend verärgert, denn auch die Festival-Mitarbeiter, die um Rat gefragt wurden, waren nicht informiert.

Der alljährlich verliehene Bird Award ging dieses Jahr an Max Roach in der internationalen Kategorie, den Bassisten Hein van de Geyn in der niederländischen Kategorie und den Rundfunkmoderator Aad Bos als Sonderpreis. Mit Max Roach war nicht zum ersten Mal der internationale Preisträger nicht anwesend. Dies trägt nicht zur Reputation des Awards bei. Es wäre wünschenswert, in Zukunft nur solche Musiker zu nominieren, die für das Festival bereits gebucht sind.

Jam Sessions

Erfreuerlicherweise griffen die Organisatoren die letztjährige Anregung auf (siehe JP 9/97) und experimentierten mit verschiedenen Formen von Sessions jenseits der von der Musikindustrie vorgegebenen Gruppen. So bekam zum Beispiel Dianne Reeves die Möglichkeit, sich zu ihrem Set einen Gast einzuladen. Sie wählte Trompeter Nicholas Payton, der sie sehr gelungen begleitete. Eine echte Jam Session in dem Sinne, daß auch weniger bekannte Musiker mit einsteigen konnten, fand unter Leitung von Posaunist Frank Lacy statt. Leider kamen nur wenig Zuschauer zu dieser Session, weil sie mit ‘Session led by Frank Lacy’ einfach zu unspezifisch im Programm angekündigt war. Wäre den Leuten klar gewesen, was hier stattfinden sollte, wäre das Spiegelzelt bestimmt voll gewesen. Die schönste Session dieser Art lief unter Leitung von Roy Hargrove, der zu seinem Sextett mit dem energisch swingenden Pianisten Larry Willis und dem inspirierten Posaunisten Frank Lacy die Tenorsaxofonisten Johnny Griffin, Stanley Turrentine und James Carter eingeladen hatte. Die drei hatten vorher jeweils ihre eigenen Sets gehabt, in denen Turrentine mit seinem emotionalen souligen Sound den Saal zum Kochen gebracht hatte und James Carter mit seiner neuen Saxofon-Orgel-Kombination begeisterte. Hargrove ließ das Aufeinandertreffen der drei nicht zum Cutting Contest werden, sondern gab ihnen genügend Raum zur solistischen Entfaltung. Vor allem James Carter fühlte sich sichtlich wohl und spielte zusammen mit Hargrove die besten Solos der Session. Als schließlich Hargrove, Lacy und Carter eine Tanzeinlage zu der swingenden Musik boten, tobte das Publikum.

Interessant waren auch die Themenschienen des Festivals. ‘Jazz and Spoken Word’ brachte Lyrik und Jazz zusammen, ‘Decks ‘n’ Jazz’ präsentierte Gruppen, die mit Sampling arbeiteten. Musikalisch war das sicher nicht jedermanns Geschmack, bot aber doch gute Gelegenheit, andere Stilrichtungen kennenzulernen. Auch die Knitting Factory Schiene räumte mit manchem Vorurteil auf, war doch hier nicht nur Noise Music à la John Zorn zu hören, sondern durchaus konventionellere Sounds wie etwa die Gruppe Vibes mit dem Vibrafonisten Bill Ware, der über einem härteren 90er Jahre Beat auf den Spuren Milt Jacksons wandelte.

Insgesamt bot Den Haag auch in der 23sten Ausgabe ein musikalisch höchst lohnendes Festival, das natürlich noch viel mehr beinhaltete, als hier dargestellt werden kann. Es ist anzunehmen, daß die Organisatoren aus den Fehlern im Kommunikationsbereich Lehren ziehen werden. Beweisen können sie das vom 9. bis 11. Juli 1999.

Hans-Bernd Kittlaus