NSJF 2012

North Sea Jazz Festival 2012
Sonne und Regen in Rotterdam

pdf[1](erschienen 9/2012)

 

Gerade rechtzeitig für die 37. Ausgabe des North Sea Jazz Festivals kam die Rücknahme der vorjährigen massiven Erhöhung der niederländischen Mehrwertsteuer auf Konzerttickets. So war das Rotterdamer Ahoy Zentrum bei durchwachsenem Wetter an allen drei Festival-Tagen gut gefüllt, wenn auch nicht ausverkauft. Wie immer bot das Programm Pop-Stars wie Rufus Wainwright, James Morrison und Rumer neben großen Jazz Acts wie Pat Metheny, Wayne Shorter oder einem gelungenen Miles Davis Tribute mit Wallace Roney, Robben Ford und Omar Hakim. Ein separates Nachtkonzert gab es dieses Jahr mit Lenny Kravitz im Anschluss ans normale Festivalprogramm.

Schwerpunkte

Als Artist-in-Residence wurde diesmal der Saxofonist und Publikumsliebling Joshua Redman ausgezeichnet, der es sichtlich genoss, vier verschiedene Projekte vorstellen zu können. Mit der holländischen Großformation Metropole Orkest unter Vince Mendoza spielte er ein Tribute an Stan Getz. Mit seiner aktuellen Band James Farm, hochkarätig besetzt mit Pianist Aaron Parks, Bassist Matt Penman und Schlagzeuger Eric Harland, zeigte er sich wesentlich zupackender als auf der CD der Band. Einen geradezu kammermusikalischen Ansatz verfolgte er mit dem Axis Quartet, in dem er mit den Saxofonkollegen Chris Potter, Mark Turner und Chris Cheek hochkomplexe mehrstimmige Kompositionen spielte, die zu großen Teilen ausnotiert waren. Am mitreißendsten war dann sein Auftritt mit dem Bad Plus Trio, das weitestgehend auf Rock Elemente verzichtete und als sehr feinfühlige Rhythmusgruppe für einen Joshua Redman in Hochform agierte. Der Paul Acket Award ging an den Pianisten und Keyboarder Craig Taborn, der sich zunächst höchst eindrucksvoll solo präsentierte. Dabei reichte sein Spektrum von lyrischen Passagen in der Nähe der Neuen Musik über freie stark perkussive Ausbrüche bis zu einer modernen Abwandlung des Stride Pianos. Anschließend hatte er gute solistische Momente als Mitglied der neuen Band PRISM des Bassisten Dave Holland zusammen mit Gitarrist Kevin Eubanks und Drummer Eric Harland. Holland hat im Laufe seiner Karriere kaum jemals Gitarristen in seinen eigenen Bands gehabt, aber durchaus mit Musikern wie Pat Metheny, John Abercrombie oder Kevin Eubanks zusammengewirkt. Nachdem Eubanks über 15 Jahre die Tonight Show Band im amerikanischen Fernsehen leitete und dadurch kaum live zu erleben war, kann man PRISM als „Wiedereingliederungsmaßnahme“ für den Gitarristen sehen. Der Sound der Band war recht ansprechend, wenn Eubanks blues-orientiert agierte. Wenn es allerdings rockig wurde, gingen Taborn und Holland im Sound-Brei unter. Die thematischen Schienen waren in diesem Jahr schwächer ausgeprägt als in den Vorjahren. Am überzeugendsten war das vom portugiesischen Clean Feed Label zu seinem zehnjährigen Jubiläum kuratierte Avantgarde Programm mit fünf Bands. Darin bestach das Tom Rainey Trio mit der deutschen Saxofonisten Ingrid Laubrock und der New Yorker Gitarristin Mary Halverson ebenso wie Marty Ehrlich’s Rites Quartet mit dem wundervollen Cello-Klang von Hank Roberts und dem ausdrucksstarken Trompeter James Zollar. „Jazz in the Third Space“ versammelte interkontinental besetzte Bands, was in der heutigen Zeit genauso stilistische Beliebigkeit bedeutet wie „New Urban Jazz“. Darunter gab es großartige Auftritte. Der kubanische, in New York lebende Schlagzeuger Dafnis Prieto, letztes Jahr mit dem hochdotierten amerikanischen MacArthur Award ausgezeichnet, stellte sein Proverb Trio mit Keyboarder Jason Lindner und Sänger Kokayi vor. Die Musik lebte von der überschäumenden Virtuosität der drei Protagonisten und ihrem Improvisationstalent und umfasste Rap, Rock, Pop und Jazz-Elemente. Kokayi gelang es in selten gehörter Art, Rap mit ausgeprägtem Jazz Feeling zu verbinden. Prieto erwies sich als begnadeter Schlagzeuger, der in Technik, Virtuosität und Eleganz an Buddy Rich erinnerte. Der Sänger Gregory Porter ist inzwischen in den Niederlanden zum Publikumsliebling avanciert und war selbst über die heftigen Reaktionen überrascht. Er brachte überwiegend Songs aus seinen beiden CDs, besonders eindrucksvoll seine Eigenkompositionen „1960 What?“ und „On My Way to Harlem“. Sein Konzert lebte von seiner warmen, druckvollen Baritonstimme in Verbindung mit guter Bühnenpräsenz und der Spielfreude seiner eher konventionell agierenden New Yorker Band, in der Pianist Chip Crawford und Altsaxofonist Yosuke Sato herausragten. Interessant war der unmittelbare Vergleich mit José James, dem zweiten angesagten New Yorker Sänger. Der schmächtige James zeigte sich experimentierfreudiger und musikalisch variabler, konnte es aber in punkto Bühnenpräsenz und purer stimmlicher Qualität nicht mit Porter aufnehmen.

Highlights

Wie schon im Vorjahr begeisterte Piano-Altmeister Ahmad Jamal erneut. Seine Band mit Bassist Reginald Veal, Schlagzeuger Herlin Riley und Perkussionist Manolo Badrena zeigte sich optimal eingespielt und setzte Jamal’s orchestralen Ansatz mit abrupten Dynamikwechseln und heftigem Swing um. Oklahoma City in Kansas ist nicht gerade als Nabel des Jazz bekannt, und doch kommt von dort die erfrischende Jacob Fred Jazz Odyssee, eine Avantgarde Formation mit dem New Yorker Trompeter Steven Bernstein, die in ihrer Mischung aus alten Jazz Stilen und freien Elementen und ihrem Humor an das Willem Breuker Kollektief erinnerte. Tenorsaxofonist David Murray stellte seine Blues Big Band mit dem überragenden Marc Cary an Piano und Hammond vor, die die Sängerin Macy Gray als Gast dabei hatte. Der Auftritt litt unter suboptimalem Sound, der erst zum Ende des Konzerts besser wurde, konnte aber trotzdem überzeugen mit Grays rauher Stimme, die an Esther Phillips erinnerte, und einer satt klingenden Big Band mit überzeugenden Solisten wie dem englischen Saxofonisten Tony Kofi. Der junge Saxofonist Marius Neset entsprach so gar nicht dem Klangideal des Nordic Jazz, sondern bot Solos von brennender Intensität, die an Free Jazz Heroen wie Peter Brötzmann oder Mats Gustafsson denken ließ. Sein recht konventionell agierendes Trio hielt die Musik aber immer auf harmonischer Spur. Der vielgelobte amerikanische Trompeter Ambrose Akinmusire überzeugte mit wunderbarem Klang auf seinem Instrument, aber seine Band wirkte eher übernächtigt als inspiriert. Drummer Brian Blade spielte nicht mit Wayne Shorters Quartett, sondern brachte seine langjährig eingespielte Fellowship Band nach Rotterdam. Auch diese Musiker wirkten übermüdet, ließen sich aber von Energiebündel Blade trotzdem zu einer guten Vorstellung antreiben, bei der besonders Saxofonist Myron Walden mit inspirierten Solos auffiel. Große Gefühle löste der Auftritt von McCoy Tyner mit Ravi Coltrane, dem Saxofon-spielenden Sohn von John Coltrane, ebenso aus wie Sänger Tony Bennett, der mit 85 noch erstaunlich gut bei Stimme war, dem Great American Songbook frönte und mit mehreren Standing Ovations vom Publikum gefeiert wurde. Der andalusische Pianist Chano Dominguez stellte sein höchst gelungenes Programm Flamenco Sketches in Quartettbesetzung vor, in dem er seine Verschmelzung von Jazz und Flamenco auf die Stücke der berühmten Miles Davis LP „Kind of Blue“ anwandte, die das Stück „Flamenco Sketches“ enthält. Den Schlusspunkt des Festivals setzte Archie Shepp, der seine langjährigen Ansatzprobleme überwunden hat und genauso überzeugte wie auf dem letztjährigen Jazz Festival in Frankfurt. Sein Quartett mit dem mitreißenden Pianisten Tom McClung, Bassist Wayne Dockery und Schlagzeuger Steve McCraven begleitete ihn energiegeladen. Sein unverkennbarer blues-getränkter Sound auf dem Tenorsaxofon berührte ebenso wie sein Sopranspiel und seine stimmigen Gesangseinlagen.

Jan Willem Luyken und sein Organisationsteam äußerten sich zu Recht zufrieden mit dieser Festivalausgabe. Neu gewonnene Sponsoren und die Senkung der Mehrwertsteuer auf Ticketpreise schaffen gute Voraussetzungen für die nächsten Jahre. Auch das Scheitern des Versuchs, erneut ein konkurrierendes Jazz Festival in Den Haag zu starten, kommt dem North Sea Jazz Festival zugute. Das nächste Festival ist vom 12. bis 14. Juli 2013 geplant.

Hans-Bernd Kittlaus