Der Artikel „Jazz – was ist das?“ ([1], JP 04/2009) hat erfreulich viele Leserreaktionen hervorgerufen, die zum Teil bereits im Jazz Podium ([2] und [3]) dargestellt wurden. Inzwischen sind noch einige weitere Zuschriften eingegangen, die hier zusammengefasst werden sollen.
Hartmut Tripp ergänzt seinen Jazz Podium Beitrag ([3]) mit folgendem Definitionsversuch: „Jazz ist eine Musizierweise, die um 1900 innerhalb der schwarzen Bevölkerung von New Orleans entstand, sich in den USA ausbreitete, in Europa Fuß fasste und schliesslich international wurde. Wesensmerkmal des Jazz ist einerseits seine stete Weiterentwicklung und stilistische Erneuerung (bis um die Jahrtausendwende einteilbar New Orleans, Dixieland, Chicago, Swing, Bebop, Cool Jazz, Hardbop, Rockjazz , Free Jazz , Funk/Fusion) und andererseits seine an den Stilen und Schulen (und damit auch an Musikerpersönlichkeiten) orientierte Traditionspflege, in der gleichzeitig bewahrt und erneuert wird. Wegen der starken Personalisierung und der ausgeprägten Individualität gibt es keine klare Abgrenzung zu anderen Musizierformen und Musikarten, – dies um so mehr, als Grenzgängertum und Grenzüberschreitung (oft bewusst als Provokation inszeniert) zur Indentität der Jazzakteure gehören. So ist der Jazz eine Musik mit vielen Gesichtern.“ Da allerdings Linguistik und Logik von einer guten Definition gerade fordern, dass sie eine solche Abgrenzung zu Anderem vornimmt bzw. ermöglicht, erscheint diese Formulierung eher als Beschreibung denn als Definition.
Die Ausführungen von Patrick Bebelaar in [2] führten zu einigen heftigeren Reaktionen. So schrieb Gerhard Klußmeier: „Woher aber der nicht mehr zu übersehende, nämlich absolute Hass gegen Wynton Marsalis kommt (Schizophrenie, lt. Bebelaar) kann ich wahrlich nicht mehr nachvollziehen. Und dass Jazz eben Jazz nur ist, weil er sich im ständigem Vorwärts und in der Erneuerung befindet, klassisches wie in der Klassik offensichtlich Verblödung bedeutet und somit Jazz mit Geschlechtsverkehr vergleichbar sei, ist bei Bebelaar wohl eindeutig auf Durchblutungsstörungen im Gehirn zurückzuführen – wieviele Varianten kennt der eigentlich beim vergnüglichen Kopulieren? Mein Gott, welch ein Blödsinn wird immer wieder auf die Menschen losgelassen.“
Eduard Linshalm meint: „Patrick Bebelaar versucht u.a. hinsichtlich des Rhythmus sämtliche Grenzen zu verwischen und geht dabei völlig am Wesentlichen vorbei. Dass sich Musiker nicht über eine Definition von „swing“ oder „groove“ einigen können, bedeutet ja noch lange nicht, dass es dieses Phänomen nicht gibt. Ich bin auch völlig ratlos angesichts seiner Verwendung des Begriffes „laid-back“ und werde darauf noch Bezug nehmen. In engem Zusammenhang mit „swing/groove“ steht der seit Jahrzehnten nicht wirklich geklärte Begriff des „off beat“. Ich möchte dazu nur einen Artikel des angesehenen Autors Alfons M. Dauer zitieren (JP 2/1963, S.31 ff.). Dauer unterschied damals einen „antizipierenden“ von einem „retardierenden“ Off-Beat: „Der Melodieakzent kann seinem Grundschlag … zuvorkommen oder hinter ihm herhinken“. Ersterer charakterisiere vor allem den „Hot-Rhythmus“, letzterer verleihe dem Cool Jazz „seine zögernde, verhaltene, entspannende Wirkung“. Diese Ansicht halte ich für gänzlich falsch. Für mich ist Off-Beat so gut wie gleichbedeutend mit der sogenannten vorgezogenen (Triolen-)Achtel (bzw. Sechzehntel im Double Time Modus), die es in allen Formen des rhythmisch gebundenen Jazz und der jazzverwandten Musik (Rock) gibt. Was Dauer mit „retardierend“ meinte, ist nichts anderes als das „laid-back“-Spiel, welches hingegen keineswegs typisch für den Cool Jazz ist, sondern von allen kompetenten Musikern des Genres seit Louis Armstrong (und früher) gepflegt wird. Das heißt: Die Phrase wird samt ihren vorgezogenen Achteln um eine Spur(!!) hinter dem Beat gespielt. Dadurch entsteht ein entspanntes („relaxed“) Feeling. Auch das genaue Spielen auf dem Beat ist verbreitet: Hier sind alle Töne – auch die vorgezogenen Achtel – eben genau „in time“, nämlich im konventionellen Jazzrhythmus genau auf der jeweiligen Viertel oder (Triolen)-Achtel, bzw. im Rock genau auf der jeweiligen Viertel-, Achtel- bzw. Sechzehntelnote. Das „Hetzen“ hingegen, d.h. das überhastete Spielen der GANZEN Phrase samt vorgezogenen Achteln, klingt stümperhaft. Sogar in Fällen, wo eine Verzögerung auf technische Überforderung zurückzuführen sein mag, klingt sie meist noch akzeptabler als das Zu-schnell-Spielen. Dieses bedeutet das sichere Ende von groove und swing. Das „laid-back“-Spielen bzw. Singen kann manchmal extreme Formen annehmen und zur Verzögerung ganzer Phrasen führen (Sinatra, Billie Holiday und tausend andere bis zum heutigen Tage). Man müsste diese Dinge noch viel genauer untersuchen, um die eindeutig wahrnehmbare Differenz zum „Rubato“ des klassischen Musikers objektiv festzumachen. Kurzum: Es gibt nur antizipierenden Off-Beat. Das „laid-back“-Spielen stellt ein besonderes, wenn auch sehr verbreitetes Stilmittel dar und hat mit dem von mir gemeinten Off-Beat nichts zu tun.
Zurück zu Patrick Bebelaar: Wenn die von ihm zitierten alten Blues-Aufnahmen „laid back“ in meinem Sinne sind (und nicht in seinem eher abwertend gemeinten Sinn) – bravissimo! Manche sind es nicht. Es haben nicht nur gute Musiker den Weg zur Schallplatte gefunden. Aber er möge sich z.B. wieder einmal Big Bill Broonzy (1893-1958) anhören. Kommentar überflüssig. Das Phänomen der „vorgezogenen Achtel“ (also meinetwegen des „Off-Beat“) interpretiere ich als perfekte Balance zwischen drohendem Kontrollverlust (man wird durch den rhythmischen Impetus quasi nach vorn gerissen) und Behalten der Kontrolle (man bleibt in der Summe unbeirrbar im „groove“). Der „laid-back“-Effekt mag dann als zusätzlicher Hinweis gelten, dass man sich gleichsam gegen eine ungeheure, vorwärtstreibende Kraft stemmen muss, um „in time“ zu bleiben. Und genau diese Dinge sind es, die Jazz und jazzverwandte Musik im rhythmischen Bereich fundamental von Strawinsky & Co. trennen. Ganz zu schweigen vom Umgang mit Melodik und Harmonik.“
George Gruntz, der Jazz-Pianist, Komponist, Bandleader und frühere Leiter der Berliner Jazz Tage, schreibt: „Eine begriffliche Abgrenzung des Jazz-Begriffs ist auf jeden Fall notwendig. Als Jazzmusiker, der immer wieder Exkursionen in andere Musikbereiche unternommen hat – und dadurch auch immer wieder zu Erklärungen provoziert wurde – bin ich dankbar für wohlüberlegte Hinweise. … In Ihrer Aufzählung der Jazz-Eigenschaften würde ich die Improvisation an erste Stelle setzen, als wichtigstes Abgrenzungsmerkmal zu anderen Formen abendländischer Musik. In etwa so formuliert: Verschiedene, hoch entwickelte Improvisationstechniken als wichtigste Voraussetzung für eine gültige Jazz Interpretation.“
Wolfgang Billmann stellt auch die Improvisation in den Vordergrund: „Jazz ist die gebundene (feste Form, fester Takt: traditioneller Jazz, Swingstil, Modern-, Rockjazz, Neobop, Avantgarde-, Nujazz) oder freie (spontane Form, kein fester Takt, u. U. nichtklanglich) sowie solierende oder kollektive Improvisation nach Vorstellung eines Themas oder selten ohne dieses.“ Die Entwicklung des Jazz in den letzten 30 Jahren sieht er durchaus als kreative Weiterentwicklung, angetrieben vor allem durch rhythmische Innovationen der Schlagzeuger.
Abschließend möchte ich zusammenfassen: Die Zahl der Zuschriften zeigt, dass das Thema der Definition und Abgrenzung des Jazz-Begriffs viele Leser des Jazz Podiums bewegt. Auch wenn die Anzahl keine statistisch repräsentativen Aussagen erlaubt, ist doch bemerkenswert, dass in über 80 % der Zuschriften
· die Notwendigkeit einer Definition und Abgrenzung gesehen wird, die für den Hörer (bzw. Leser) aus der Musik selbst heraus nachvollziehbar ist.
· der in [1] enthaltene Definitionsvorschlag akzeptiert wird, wenn Improvisation mit der höchsten Priorität versehen wird (siehe Kasten).
· die Diskussion viel entspannter geführt wird als in früheren Zeiten.
Ich würde mich freuen, wenn möglichst viele Kritiker-Kollegen dieses Votum in ihrer Arbeit berücksichtigten und mutiger an die Weiterentwicklung der Sprache zur Beschreibung und Abgrenzung von Jazz herangingen.
Hans-Bernd Kittlaus
Quellen
[1] Hans-Bernd Kittlaus: Jazz – was ist das?, JP 04/2009, S. 3-6 (auch unter www.hansberndkittlaus.de)
[2] Hans-Bernd Kittlaus: Reaktionen auf „Jazz – was ist das?“, JP 07-08/2009, S. 3-5 (auch unter www.hansberndkittlaus.de)
[3] Hartmut Tripp: Beitrag zu „Jazz – was ist das?“, JP 10/2009, S. 40
Fortschreibung des Definitionsvorschlags für den Begriff „Jazz“ aus [1]:
Jazz ist eine Musikrichtung, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet:
- Anteil improvisierter Abschnitte: Verschiedene, hoch entwickelte Improvisationstechniken als wichtigste Voraussetzung für eine gültige Jazz Interpretation
- Harmonik: Nutzung erweiterter Akkorde und Blue Notes mit Anlehnung an den Blues
- Rhythmik: vorwärtstreibender bewegungsorientierter Rhythmus (Swing, Groove), Nutzung von Polyrhythmen und Synkopen
- Spezielle individualisierte Tonbildung bzw. Phrasierung mittels Schleiftönen und anderen Techniken
- Zumindest unterschwellig vorhandenes Blues Feeling