Reaktionen auf „Jazz – was ist das?“

pdf[1](erschienen 07/2009)

Im Artikel „Jazz – was ist das?“ ([1], JP 04/2009) wurde die Frage diskutiert, ob es heute noch einen übergreifenden Konsens zur Bedeutung des Wortes „Jazz“ gibt, welche Probleme die Undefiniertheit hervorruft und wie eine zeitgemäße Definition und Abgrenzung aussehen könnte. Der im Artikel enthaltene Aufruf zum konstruktiven Streiten führte zu erfreulich vielen interessanten schriftlichen und mündlichen Reaktionen, die hier zusammenfassend dargestellt werden sollen.

Insgesamt reagierten 21 Leser auf den Artikel. Der überwiegende Teil, nämlich 85% der Reaktionen, kam von Lesern des Jazz Podiums, die sich nicht professionell mit Jazz beschäftigen. Diese stimmten den Aussagen des Artikels und insbesondere dem Definitionsvorschlag übergehend zu und brachten zusätzliche Informationen und Aspekte ein. Die übrigen Reaktionen kamen von Journalisten und Musikern und stimmten in der Mehrzahl nicht mit den Aussagen des Artikels überein.

Aus dem Kreis der Redaktionsmitarbeiter des Jazz Podiums begrüßt Prof. Ilse Storb den Artikel und insbesondere die Aufforderung zu offener Diskussion. Sie favorisiert die Ableitung des Jazz-Begriffs vom Wort dzedzo aus der afrikanischen Ewe-Sprache, weil darin keine sexuellen Assoziationen enthalten sind. Sie verweist aber auch auf die Auflistung von Entstehungsgeschichten in [2]. Dr. Wolfram Knauer hingegen steht jedem Abgrenzungsversuch skeptisch gegenüber, da ihm die Offenheit gegenüber Neuem besonders wichtig ist, die er nicht eingeschränkt sehen will. Ähnlich äußert sich der Radiomoderator und Gitarrist Dietmar Hagen Horn, der darauf aufmerksam macht, dass Improvisation keineswegs nur im Jazz vorkommt, sondern in vielen anderen Musikrichtungen, zum Beispiel in der südindischen Musik. Improvisation allein ist also kein hinreichendes Kriterium für Jazz. Nicht nur, weil sie auch in anderen Musikrichtungen vorkommt, sondern auch, weil eine Menge Musik, die wir alle unzweifelhaft dem Jazz zurechnen, diesem Kriterium nicht genügt. Gute Beispiele sind die Big Bands von Basie bis Ellington. Deren Musik war typischerweise weitgehend wohlarrangiert und ließ nur an vordefinierten Stellen Improvisation durch Solisten zu.

Der ausführlichste Beitrag kommt vom Pianisten Patrick Bebelaar (siehe Kasten). Er sieht Jazz als Kommunikation von Musikern, die dabei ihre Individualität ausdrücken, betont also das Element der Improvisation. Wenn er allerdings schreibt „Wir Musiker erwarten nicht neue Begrifflichkeiten, wir erwarten detaillierte Beschreibungen …“, stellt sich die Frage, wie solche Beschreibungen ohne wohldefinierte Begriffe möglich sein sollen. Deshalb fordert auch der Saxofonist Ken Vandermark die Weiterentwicklung der Sprache der Jazz-Kritik, damit diese die aktuellen Entwicklungen der Musik adäquat beschreiben kann. Er sieht die heute verwendete Sprache als wesentlichen Grund für den geringen Publikumszuspruch für zeitgenössischen Jazz und hat deshalb selbst einen Artikel zum Jazz-Begriff geschrieben [3]. Darin definiert er Jazz aus der Sicht des Musikers über den Prozess der Entstehung der Musik. Allerdings berücksichtigt er nicht die Sicht des Hörers oder Konzertbesuchers, der i.A. keine Möglichkeit hat, diesen Prozess mitzuerleben oder zu verfolgen, sondern nur punktuell (Zwischen-)Ergebnisse dieses Prozesses hört.

Hermann Mennenga schreibt „Das Problem ist tiefgreifend und fängt bei den Plattenfirmen an. Seit Mitte der 90er Jahre hat dort der Begriff Jazz eine völlig andere Bedeutung und Wertung bekommen. … Es scheint, je breiter der Begriff Jazz im allgemeinen Sprachgebrauch gestreut werden kann und je unverbindlicher er wird, umso größer ist die Käuferakzeptanz. Dies trifft insbesondere auf jene CDs zu, die diese Musikart überhaupt nicht oder nur in unwesentlichen Teilen transportieren. Woran liegt das? Ist der Wunsch nach Individualität als Abgrenzung von der Masse mittlerweile so groß, dass der Mensch sich plötzlich mit Begriffen anfreundet, die sonst in seiner Sprache und in seiner Lebensauffassung keine Rolle spielen? „Ich höre Jazz, also bin ich“ als neue Lebensphilosophie? Dabei wird als Jazz allerhöchstens noch Norah Jones oder Robbie Williams verstanden… Es wird dadurch eine latente Außenseiterstellung suggeriert, die sich weder in Inhalt und Form vom Massengeschmack abhebt – aber es wird eben zu Jazz gemacht! Und der potentielle Käufer lässt sich in die Irre führen und fühlt sich en vogue… Aber wie will man aus dieser Misere, in die man sich durch eigene Schuld und Untätigkeit

der vergangenen drei Jahrzehnte gebracht hat, wieder heraus? Ganz einfach: wir brauchen wieder Kategorien, um Definitionen zu ermöglichen und zu erleichtern, und wir brauchen die Ehrlichkeit der Kritiker und Journalisten, diese Benennung auch vorzunehmen – ohne Rücksicht auf Plattenfirmen und Konzertveranstalter und deren Befindlichkeiten. Dieser Schritt erfordert allerdings Mut – aber er lohnt sich!“ Eduard Linshalm aus Wien meint dazu: „Ihrer Definition von Jazz lässt sich – wie auch derjenigen Berendts und anderer – wenig hinzufügen. Nur: Dass Sie damit „eine Menge Musik ausgrenze(n)“, glaube ich eher nicht. Im Gegenteil: Ihre Definition trifft wahrscheinlich bereits auf einen beträchtlichen Teil der Musik außerhalb des eigentlichen Jazz zu, die Sie „selbst gerne höre(n) und positiv bewerte(n)“.“

Aus der Schweiz schreibt Gieri Battaglia: „Ich kann Ihnen (was die Veranstalter vieler Jazz Festivals betrifft) nur beipflichten. So war das Montreux Jazz Festival einstmals ein wirkliches Jazz Festival. Heute ist es ein Sammelsurium aus Pop, Rock, Fusion etc. …dies als Jazz Festival zu bezeichnen ist somit nichts anderes als reiner Etikettenschwindel.“ Ulrich Waßner meint: „Man kann auch versuchen, die Unterschiede zwischen JPC (Jazz-Pop-Klassik als den drei Hauptbereichen(?!) der westlichen zeitgenössischen Musik) auf das Verhältnis von Komposition und Interpretation zurückzuführen: In der E-Musik/Klassik/ whatsoever sind die Rollen von Komponist und Interpret im prototypischen Fall strikt getrennt. Im Jazz ist diese Trennung (Komp./Int.) aufgehoben: relativ selten wird komponiert, meist bereits vorhandenes Material übernommen und sich anverwandelt. Insofern wird auch nicht NUR interpretiert; sondern – und das ist wesentlich – im Improvisationsprozess fallen „Komposition“ (Schöpfung) und Interpretation unmittelbar zusammen. Die Improvisation ist der Wesenskern des Jazz.“

Peter Bühr steuerte eine weitere Entstehungsgeschichte zum Wort „Jazz“ bei, nach der Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Congo Square im French Quarter in New Orleans regelmäßig Musik gemacht wurde, auf dem große Jasmin-Sträucher standen. Berauscht vom Duft des Jasmin, englisch jasmine, übertrugen die Zuschauer das Wort auf die Musik. Erik Grötzinger ergänzt, dass es inzwischen auch eine Apfelsorte namens Jazz gibt.

Gerhard Klußmeier aus Hamburg vertritt die traditionelle Schiene: „Das Thema „Jazz oder nicht“ wird wohl nur schwer zu lösen sein – zu festgefahren sind die „Fronten“ – nach eigenen Erfahrungen und Beobachtungen ist die Bezeichnung „Jazz“ im Veranstaltungs-Bereich (Veranstalter und Publikum) zu einer Art Schreckgespenst geworden, weil der Begriff angewandt wird für nahezu jede neue, avantgarditische und Experimental-Musik … dass es den Schatz des klassischen Jazz in seinen vielen Varianten gibt und ihn in die heutige Zeit herüber zu retten gilt, wird von den meisten Jazz-„Freunden“ nicht wahrgenommen…“ Karl-Heinz Breit schreibt: „Auf die simpel scheinende Frage „Jazz – Was ist das?“ haben Sie einen wirklich beeindruckenden Anstoß zum konstruktiven Streit gegeben. Der Appell ist ebenso virulent wie überfällig. Er hat mir aus der Seele gesprochen, deshalb danke ich Ihnen. … Bei der anhaltenden jetzigen Situation stehen sich die Jazzmusiker genauso selbst im Wege wie dem ganzen Genre. Jeder Versuch der Befreiung wird torpediert und verhindert Musik für die Hörer. Kann sich der Jazz das länger leisten?“

Stephan Bartsch zitiert Peter Bölke: „Jazz ist eine Haltung, eine bestimmte Auffassung von Musik – und vielleicht vom Leben.“ Doch was fängt der Hörer damit an? Muss er erst eine tiefenpsychologische Analyse der Musiker vornehmen, um beurteilen zu können, ob das, was er hört, nun Jazz ist oder nicht?

Fazit

Ich bedanke mich für die vielen anregenden Beiträge, die hier nur in Auszügen wiedergegeben werden können. Auch wenn die Zahl der Beiträge, insbesondere von Kritikern und Musikern, zu klein ist, um statistisch repräsentative Aussagen abzuleiten, bestätigen sie doch die These, dass es eine signifikante Diskrepanz der Sichten zwischen großen Teilen des Publikums einerseits und der Musiker und Kritiker andererseits gibt. Im Kern geht es um die Frage, ob „Jazz“ als Begriff

a) aus der Musik selbst heraus definiert und erkennbar sein soll, oder
b) aus der Musiker-Sicht (Selbstakklamation, Entstehungsprozess oder was auch immer)

Ich plädiere für a), weil nur darüber eine Nachvollziehbarkeit für die Zuhörer erreicht werden kann. Nur a) ermöglicht einen Diskurs aller Beteiligten (inkl. Zuhörer), wie er für Begriffsbildung notwendig ist. b) hingegen bedeutet nicht hinterfragbare Subjektivität und entzieht einem Diskurs jede Grundlage. Ist diese Diskrepanz der Sichten vielleicht ein wesentlicher Grund für die Schwierigkeiten, ein größeres Publikum zu erreichen? Auf jeden Fall kann festgestellt werden, dass all diejenigen, die a) favorisieren, mit dem Definitionsvorschlag im Artikel weitgehend übereinstimmen.

Hans-Bernd Kittlaus

(freut sich über weiteres Feedback unter kittlaus@acm.org oder www.hansberndkittlaus.de)

Quellen

[1] Hans-Bernd Kittlaus: Jazz – was ist das?, JP 04/2009, S. 3-6 (auch unter

www.hansberndkittlaus.de)

[2] Reinhard Fark: Die mißachtete Botschaft – Publizistische Aspekte des Jazz im

soziokulturellen Wandel, Verlag Volker Spiess, Berlin 1971

[3] Ken Vandermark: An Argument for Jazz, 2007, unter

http://www.kenvandermark.com/perspectives.php?persp_id=34#34

 

Jazz – Was ist das?

von Patrick Bebelaar

Um diese Frage zu beantworten, bedarf es einer anderen Frage: Woher kommt der Jazz, wie ist er entstanden? Der Jazz ist durch das Aufeinandertreffen von Schwarz und Weiß, Afrika – Europa entstanden. „Natürlich“ hat sich dabei der Unterdrückte der Kultur des Unterdrückers angenommen, was psychologisch auf der Hand liegt. Nun waren es also, vereinfacht gesprochen, „weiße Harmonik“ und „schwarze Tonfärbung“, die Worksong, Gospel und Blues entstehen ließen, denn was diese Musik mit den Herkunftsländern seiner Erfinder zu tun hat, also in erster Linie Afrika, dürfte schwieriger nachzuvollziehen sein, als die vielen Parallelen zur europäischen Musik aufzuzeigen. Es handelt sich beim Jazz immer um das Aufeinandertreffen verschiedener (Musik)Kulturen – Charlie Parker wollte Kompositionsunterricht von Strawinsky, Chet Baker klingt in seinen Pariskonzerten schon sehr neutönerisch, impressionistisch. Wer also versucht den Jazz von den „Fremdeinflüssen“ oder gar von der Folklore zu trennen, macht einen folgenschweren Fehler. Wer alte Aufnahmen des Blues hört, kann sehr schnell feststellen, dass das alles mehr nach rituellen Gesängen von Medizinmännern klingt, als nach Jazz. Der Jazz bereichert lediglich diese Formen durch Virtuosität, also Artifizierung und intellektuelle Auseinandersetzung. Schon in New Orleans bezeichnete man die Pianisten als Professoren, weil sie eben das notwendige harmonische Wissen mitbrachten, diese Entwicklung voranzutreiben. Also komme ich zu dem Schluss, dass die Entwicklung aus der Folklore und die unterschiedlichsten „Fremdeinflüsse“ ein wichtiger Punkt bei der Suche nach Begrifflichkeiten ist. Insofern war die Musik der ARFI, der imaginären Folklore, nichts Neues, nur eben nicht mit pentatonischem Material. Und so kann weiter festgehalten werden, dass die Zuordnung zur Begrifflichkeit „Jazz“ nicht über das klangliche Ergebnis gehen darf, sondern über die Art und Weise, wie dieses entstand. Es muss also ein Zusammentreffen verschiedener kultureller Strömungen zugrunde liegen, das kann multikultureller Natur sein, aber sicherlich gibt es auch Menge andere Cross-Over-Möglichkeiten.

Improvisation ist ebenfalls nur bedingt ein Erkennungsmerkmal. Denn in allen Kulturen gibt es Improvisationen, im schwäbischen Liederkranz „bekämpfen“ sich die Sänger mit frei und spontan erfundenen Texten genauso, wie in der klassischen Musik bereits Mozarts großes Improvisationstalent bekannt ist. Ebenfalls ist das Wort „Swing“ oder „bewegungsorientierter Rhythmus“ nicht zutreffend. Ich ziehe erneut die frühen archaischeren Formen des Blues heran. Man kann nun wirklich nicht sagen, dass die besonders swingen würden. Und auch die Musik von Don Cherry ist nicht mehr bewegungsorientiert als der dritte Satz des Brahms Requiems (Strawinsky gar nicht zu erwähnen!). Vielmehr sind die oben von mir genannten Beispiele Hinweise auf das „Laid Back“, des Nach-Hinten-Spielens, des Verzögerns. In ursprünglichen Formen oft sogar jenseits von allem, was man als „time“ bezeichnen könnte. Das bedeutet, dass eigentlich nicht die „Time“, der Swing oder der Groove (solche Worte ergeben aufgrund ihrer Unübersetzbarkeit keinen wissenschaftlichen Sinn, sie taugen bestenfalls in der Unterhaltung von Musikern. Fragen Sie zehn verschiedene Musiker nach einer Definition und Sie erhalten genauso viele unterschiedliche Erklärungen.) das Besondere ist, sondern die verschiedene Auffassung von Time und Phrasierung, die aufeinander treffen, aber sich homogen ineinander fügen – also schon wieder dieser „Multi-Aspekt“, wie bereits harmonisch und melodisch oben in kultureller Hinsicht erwähnt. Es geht also eher um den Aspekt der ausgeprägten Persönlichkeit des Spielers, seines individuellen Bildens von Tönen und Phrasierung.

Jazz definiert sich selbst aus einem einzigen Kriterium: Die instrumentale Persönlichkeit des Musikers. Dieser unterscheidet sich vom klassischen Kollegen dadurch, dass jener seine gesamte Technik in den Dienst einer Komposition stellt. Er erarbeitet sogar neue Techniken allein für eine Komposition, für einen einzigen Ton. Der Jazzmusiker hingegen geht den umgekehrten Weg: Er unterwirft jedes Stück seiner Persönlichkeit, seiner Stimme, seiner Einmaligkeit als Instrumentalisten, seinem Sound, seiner Phrasierung und seiner ihm eigenen Technik. Wenn er eine neue Technik erarbeitet, dann wird er diese immer verwenden, wenn ihm danach ist. Nicht die Komposition bestimmt die Technik, mit der musiziert wird, sondern das Ausdrucksbedürfnis des Musikers. Dies beinhaltet natürlich den Aspekt der Spontaneität und damit auch die Notwendigkeit der Improvisation.

Uns Musiker interessiert nur die Persönlichkeit, die Möglichkeit der Inspiration durch eine ungewohnte, neue Stimme, mit der wir eine neue Korrespondenz, neue Diskussionen beginnen können. Daher bezeichnet Joe Fonda, langjähriger Bassist Anthony Braxtons, sein Konzept als „Conference Call“. In dieser Bezeichnung steckt weit mehr, als nur Unterhaltung und Diskussion, auch der ursprüngliche Gedanken des Wortes Jazz ist hier tief verwurzelt. Egal ob Sperma, Geschlechtsverkehr oder was auch immer: Wichtig allein ist, dass es sich um etwas handelt, was zur Kommunikation mit mehreren beiträgt (auch Sperma erfüllt bekanntlich erst seinen Sinn in Kombination mit anderen Menschen); Für Musiker besteht diese Kommunikation im spontanen Aufeinandereingehen, in der Improvisation mit dem Instrument, dem Mitmusiker, dem Publikum. Kommunikation als Ursprung aller Musik, als Bedürfnis nach einem „Sich-Mitteilen“, im archaischen Sinne auch den Göttern, den Toten und den Ahnen in Ritualen, aber einfach auch dem Mitmenschen. Metaphorisch ganz im Sinne des Wortes „Jazz“, eben Geschlechtsverkehr und nicht Onanie.

Es geht nicht um Kunst (wie in der europäischen Musik), sondern um (vielleicht eher aus der afrikanischen Tradition kommend) Kommunikation, natürlich ist diese auf einem rhetorisch hohen Niveau anzusiedeln. Es handelt sich um eine Musik, die ihre ganze Kraft aus der Neugierde auf das Neue, das Gegenüber bezieht und sich immer am Leben erhält durch den Musiker, der etwas mitzuteilen hat. Deshalb wird sie auch in immer neuen Mischformen vorliegen, denn der Jazz sucht nach immer neuen Wegen. Dies hat er rasant zu Beginn seiner Geschichte getan und mit der Globalisierung tut er das nun auch in der ganzen Welt. Mit dem Drang zur Freiheit, zur freien Meinungsäußerung geht der Jazz seinen Weg und jeder Versuch, ihn in Ketten zu legen, scheitert am eigentlichen, am ursprünglichen Gedanken des Jazz: „Alles ist möglich – gehe DEINEN Weg“. Dies ist also die Zauberformel des ewigen Lebens: Der konservative Jazzmusiker sucht, ganz in der Tradition des sich immer weiterentwickelnden Jazz, ständig nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, weil dies dem genetischen Code des Jazz in die Wiege gelegt wurde. Hingegen sind es die „Bewahrer“, die auf der Suche nach „Reinheit“ sind, die einen progressiven, da Jazz-untypischen Weg einschlagen. Eine Ironie des Schicksals scheint es jedoch zu sein, dass es ihnen nicht bewusst ist, denn sonst könnten sie ja mit mir argumentieren: Alles ist möglich (auch der Paradigmenwechsel, den sie zu vollziehen versuchen, also das „Bewahren“) – Jazz ist Sex, Sex ist Leben und Leben ist Wandel und stetige Veränderung – Stillstand ist Tod!

Lassen wir also Kollegen wie Marsalis in ihrer Schizophrenie gewähren, etwas zu Bewahren, das sie aber in Wirklichkeit grundlegender verändern als es je jemand zuvor getan hat. Sie ändern ja nicht einen Stil oder verschmelzen neue Timing-, Phrasierungs- oder Ausdrucksmöglichkeiten miteinander – sie verändern den grundlegenden Gedanken des Jazz, im ständigen Wandel zu sein. Und was noch viel gruseliger ist: Sie verändern genau jenen rein afrikanischen Anteil des Jazz, der das Individuum in den Vordergrund rückt und der die Imitation und Kopie eines Mitmusikers als persönliche Beleidigung betrachtet. (Hierüber kann man eine Menge nachlesen, wenn man sich mit afrikanischer Musik beschäftigt) Sie gehen den „weißen“ Weg, den der Werktreue, den des Katalogisierens und letztlich den der Ausgrenzung.

Jazz ist KEIN STIL! Stile sind Bebop, Cool Jazz und wie sie alle heißen. Jazz ist eine Philosophie, eine musikalische Weltanschauung und so wie Palestrina genauso ein klassischer Komponist ist und seine Musik zur Klassik gehört wie die eines Lachenmann, wird der Jazz auch in Hunderten von Jahren noch Neues zu bieten haben. Mal mehr, mal weniger interessant. Es wäre sinnvoller, man würde sich Fachwissen erarbeiten und könnte all die neuen Strömungen einordnen – nicht nach Begrifflichkeiten, sondern nach Kulturen, Herkunft und Entstehung, nach den Wurzeln, die zugrunde liegen. Wir Musiker erwarten nicht neue Begrifflichkeiten, wir erwarten detaillierte Beschreibungen auf dem selben hohen rhetorischen Niveau, mit derselben Inbrunst und der selben Offenheit, mit der wir uns weltweit, religionsübergreifend musikalisch unterhalten. – So einfach ist das.