Jazz – was ist das? Ein Aufruf zum konstruktiven Streiten

Jazz – was ist das?
Ein Aufruf zum konstruktiven Streiten

pdf[1](erschienen 04/2009)

Das Wort „Jazz“ hat in den letzten 30 Jahren eine erstaunliche Renaissance erlebt und trägt heute offenbar so positive Assoziationen, dass es von Marketing-Spezialisten als Produktname in eigentlich musikferne Branchen getragen wird. Doch was bedeutet „Jazz“ heute? Ist es überhaupt ein Begriff mit nachvollziehbarer allgemein anerkannter Definition, oder ist es nur ein Wort, über dessen Bedeutung es keinerlei Konsens gibt? Und stellt dieser Status quo ein Problem dar oder einen Anlass zur Freude?

Kurzer historischer Abriss

Die Herkunft des Wortes „Jazz“ ist nicht eindeutig geklärt. Erstmals tauchte der Begriff vermutlich 1909 in dem Song „Uncle Josh in Society“ auf: „One lady asked me if I danced the jazz …“ und meinte wahrscheinlich eine Art von Ragtime-Tanz. 1913 ist der Begriff belegt als Bezeichnung einer Art von Musik, möglicherweise als Bezeichnung für die Musik zu jenem Ragtime-Tanz. Möglicherweise ist er abgeleitet aus einem Wort „jass“ aus dem kreolischen Patois, das für „tatkräftige Aktivität“, im speziellen Sexualverkehr stand. Möglich ist auch eine Ableitung des Wortes Jass oder Jazz aus der Verwendung des Begriffes jasm (französisches Wörterbuch von 1860) für Energie, Dynamik und Vitalität wie auch als Slang-Wort für Samen, oder als passender Ersatzbegriff für afrikanische Tanznamen wie etwa Mandingo jasi oder Temne yas. Allen Herkunftsvermutungen gemeinsam ist die Nähe zu den Amüsiervierteln der damaligen Zeit mit ihrer engen Verzahnung von Musik, Tanz, Alkohol und Prostitution.

Ab spätestens 1915 gibt es Bands aus New Orleans, die das Wort Jass oder Jazz im Band-Namen tragen und/oder damit ihre Musik bezeichnen. Der Bandleader Tom Brown nahm für sich in Anspruch, als Erster dieses Wort für die genauere Beschreibung einer Band verwendet zu haben, worüber ein heftiger Streit mit Nick LaRocca von der Original Dixieland Jass Band entbrannte. Das englische Verb „to jazz“ für „to speed or liven up“, schneller werden oder beleben, in Schwung bringen, ist ab 1917 belegt.

Joachim Ernst Berendt prägte mit seinem Standardwerk „Das Jazzbuch“ ([1]) über lange Zeit die Sicht zumindest im deutschsprachigen Raum auf die historische Entwicklung des Jazz. Im Kern argumentierte er, dass etwa alle 10 Jahre eine neue Stilrichtung des Jazz dominant wurde. Dies stellte zwar eine starke Vereinfachung dar, da ältere Stile keineswegs schlagartig verschwanden, sondern über längere Zeiträume verschiedene Stilrichtungen parallel gespielt wurden, aber als grobe Orientierungshilfe ist Behrendts Ansatz bis in die 70er Jahre hinein durchaus nützlich. Der Free Jazz der 60er Jahre stellte einen Kulminationspunkt der Jazz-Entwicklung dar, der in seiner radikalen Expressivität nicht mehr steigerungsfähig war. Gleichzeitig war der Jazz von der dominierenden Unterhaltungsmusik der 30er Jahre zu einer Nischenmusik mit sehr geringem Publikumszuspruch geworden. So waren es nicht nur künstlerische, sondern auch wirtschaftliche Gründe, die Musiker ab Ende der 60er Jahre bewogen, Einflüsse der damals populären Rock- und Pop-Musik aufzunehmen. So entstanden der Rock Jazz und der Fusion Jazz der 70er Jahre. Die seitherige Entwicklung ist nicht mehr mit diesem Phasenmodell beschreibbar, da sie von einer Pluralität der Stile geprägt ist, innerhalb derer kein Stil dominiert.

John Gennari hat in seinem leider wenig beachteten Buch „Blowin’ Hot and Cool – Jazz and Its Critics“ ([2]) dokumentiert und analysiert, wie die führenden englischsprachigen Jazz-Kritiker von Leonard Feather und Martin Williams bis zu Gary Giddins und Stanley Crouch den Jazz nicht nur begleitet, sondern auch beeinflusst haben, indem sie eine Fachsprache entwickelten und artikulierten und diskutierten, was wie bezeichnet werden sollte, was gut und was schlecht war. Er schildert die teilweise brutalen Auseinandersetzungen um die Frage, was als („wahrer“) Jazz betrachtet werden durfte. Die kochten insbesondere immer dann hoch, wenn ein neuer Stil sichtbar wurde. Swing Fans konnten mit Bebop nichts anfangen, Bebop Fans lehnten Free Jazz ab usw. Diese Auseinandersetzungen waren deswegen oft so militant, weil Kategorisierung und Benennung mit Bewertung vermischt wurden. Es ging zumeist nicht allein darum, Begriffe zu klären und abzugrenzen, sondern die Begriffe wurden unmittelbar als Bewertungen verstanden im Sinne von „Swing ist Jazz, also gut; Bebop ist kein Jazz, also schlecht“.

Von einigen Superstars wie Ella Fitzgerald oder Oscar Peterson abgesehen hatten in den 70er Jahren nur noch Rock Jazz und Fusion Jazz kommerzielle Relevanz. Jazz, der sich nicht an Populärmusik orientierte, überlebte bestenfalls in Nischen. Damit ebbten auch die oben beschriebenen Auseinandersetzungen um den „wahren“ Jazz etwas ab. Im deutschsprachigen Raum wandte sich Behrendt, vormals der Hohepriester des Jazz, zunehmend der Weltmusik zu. Dies brachte ihm viele Anfeindungen ein, doch erscheinen diese aus heutiger Sicht als ein letztes Aufbäumen, bevor die deutsche Jazz-Kritik ihre Deutungshoheit über den Jazz-Begriff zermürbt aufgab. In dieser Zeit wurden die Wurzeln für eine zunehmend eigenständige europäische Form von Jazz gelegt, etwa durch Manfred Eicher und sein ECM Label.

In den USA kam es ab Ende der 70er Jahre zu einer wundersamen Renaissance des Jazz. Symbolfigur wurde der Trompeter Wynton Marsalis, der Vorbild für eine Vielzahl junger Musiker wurde, die dann als Young Lions bezeichnet wurden. Marsalis wurde später künstlerischer Leiter des New Yorker Jazz at Lincoln Center, der wichtigsten Jazz-Institution in USA. Unterstützt von Jazz-Kritiker Stanley Crouch und Schriftsteller Albert Murray versuchte er, den Jazz-Begriff wieder enger zu fassen und einen Jazz-Kanon zu definieren. Dies führte zu heftigen Diskussionen in USA, die darunter litten, dass nicht nur wieder Begriffsabgrenzung und Bewertung vermischt wurden, sondern dass zusätzlich noch die Rassenfrage (Jazz als schwarze Musik) dazu gemischt wurde. So erfolgreich und wichtig Marsalis für die Renaissance des Jazz war und ist, mit seinem Versuch der Gewinnung der Deutungshoheit über den Jazz-Begriff hat er sich bis heute nicht durchgesetzt. Die kommerziell erfolgreichste Stilrichtung wurde ab Ende der 80er Jahre in den USA der Smooth Jazz, eine Form von Pop Jazz mit Wurzeln im Fusion Jazz, die als besonders Radio-kompatibel angesehen wurde. Im deutschsprachigen Raum hat sich diese Musik nicht nur wegen des für deutsche Zungen unaussprechlichen Namens nicht verbreitet. Europa koppelte sich zunehmend von USA ab und entwickelte eigene Stilarten, zum Beispiel den Nordic Jazz, der wiederum in USA keine Relevanz erzielte.

Die von Marsalis angezettelte Diskussion um den Jazz-Begriff fand im deutschsprachigen Raum wenig Widerhall. Die deutsche Jazz-Kritik hat sich mit der Undefiniertheit des Begriffs „Jazz“ arrangiert, ja, sie verteidigt diese teilweise engagiert. Sie hat damit dazu beigetragen, dass sich Marketing-Spezialisten seiner bemächtigt haben. Heute ist „Jazz“ der Name für ein Parfum (Yves Saint-Laurent), ein Auto (Honda) oder Software (IBM Rational). Offenbar besitzt das Wort eine erwünschte Aura von Nonkonformismus, intellektuellem Anspruch, Hipness, die sich umso besser zur Aufladung für andere Produkte nutzen lässt, je weniger scharf der Begriff „Jazz“ selbst definiert ist. Diese Marketing-Sicht dominiert auch große Teile der Musik-Industrie, d.h. die Major Labels und die Veranstalter vieler Jazz Festivals.

Musiker und Sprache

Das primäre Ausdrucksmittel eines Jazz-Musikers ist seine Musik. Natürliche Sprache zur Behandlung von Musik wird von vielen als mehr oder weniger notwendiges Übel betrachtet, auch wenn Jazz-Musiker heute in der Mehrzahl ein entspannteres und professionelleres Verhältnis zum Thema Marketing haben als in früheren Zeiten.

Es hat eine gewisse Ironie, dass einige der Musiker, die heute als Ikonen des Jazz betrachtet werden, zu ihrer Zeit den Begriff „Jazz“ nicht akzeptierten. Duke Ellington lehnte ihn ebenso ab wie Schlagzeuger Max Roach. Das lag zum einen an der mutmaßlichen Nähe zu „schmutzigen Worten“ (siehe oben), zum anderen spielte auch die Rassenfrage eine Rolle, d.h. der Begriff wurde als eine von Weißen vorgenommene Abstemplung schwarzer Musik verstanden. Die Sängerin Nancy Wilson wollte lange Zeit nicht als Jazz Sängerin, sondern als „Song Stylist“ bezeichnet werden, u.a. um ihr Cross Over in den Pop-Markt nicht durch die Ablage in der Jazz-Schublade zu behindern.

Heute haben Musiker zumeist keine Vorbehalte mehr gegen den Begriff „Jazz“. Die wenig noble Herkunft ist vergessen, die mit dem Begriff verbundene Hipness gefällt, die faktische Undefiniertheit stellt keinerlei Einschränkung dar. Natürlich möchte jeder Musiker individuell als eigenständige Stimme wahrgenommen werden und seine künstlerische Freiheit nicht durch Zuordnung zu irgendeiner Schublade einschränken lassen. Doch nur wenige gehen so weit wie Pianist Brad Mehldau, der in seinen selbst geschriebenen Liner Notes zu seiner CD „Art of the Trio 4“ ([3]) jede auf der Historie basierende Klassifizierung ablehnt, was in der Konsequenz bedeutet, dass er die Verwendung von Sprache zur Behandlung von Musik ablehnt (siehe Exkurs).

Nur wenige Jazz-Musiker äußern sich zur Definition des Begriffs „Jazz“ so offensiv wie Wynton Marsalis (siehe oben). Auf einer Linie mit Marsalis dürfte die Aussage liegen, die der 90-jährige Pianist Hank Jones jüngst anbot ([4]): „… it has to have what is commonly considered to be jazz figures. Syncopation, things like that … harmonizations. It doesn’t have to necessarily have a blues style, … but a feeling for the blues. And it is not all about the notes. It’s about what you do with them.”

Jazz-Journalisten und -Wissenschaftler und Sprache

Das primäre Medium der Jazz-Journalisten und -Wissenschaftler ist die Sprache. Damit sind sie den Spielregeln der Linguistik (siehe dazu „Kleiner Exkurs“) unentrinnbar verhaftet. Daher ist es eine ihrer vorrangigen Aufgaben, in ihrem Themenbereich, dem Jazz, kontinuierlich für Begriffsbildung und -fortschreibung zu sorgen, also die sprachliche Basis zu schaffen und zu erhalten, die es erlaubt, über Jazz und seine Entwicklung zu reden, zu schreiben und zu diskutieren. Ich stelle die These auf, dass zumindest im deutschsprachigen Raum Jazz-Journalisten und -Wissenschaftler dieser Aufgabe seit ca. 30 Jahren nicht mehr nachkommen und – was noch schlimmer ist – dies nicht nur nicht als Problem thematisieren, sondern als positive Errungenschaft verteidigen.

Als Beispiel und Beleg für meine These möchte ich das 9. Darmstädter Jazzforum heranziehen, bei dem es im Herbst 2005 um das Thema „Der Jazz und sein gespaltenes Verhältnis zur Popularmusik“ ging und dessen Beiträge im Tagungsband [5] veröffentlicht wurden. Das Darmstädter Jazzforum ist eine Veranstaltung des Jazzinstituts Darmstadt unter Leitung des geschätzten Kollegen Dr. Wolfram Knauer, zu der alle zwei Jahre viele der führenden (überwiegend) deutschsprachigen Jazz-Journalisten und -Wissenschaftler zusammen kommen. Der Titel der Veranstaltung 2005 schrie geradezu nach einer Abgrenzung der Begriffe „Jazz“ und „Pop“. Doch keiner der Beitragenden nahm eine solche Abgrenzung explizit definitorisch vor. Wolfram Knauer schrieb in seiner Einleitung „Und immer noch sprechen wir vom Jazz und meinen eine Musik, die für eine bestimmte Art von Spontaneität steht, für Improvisation, für Individualität und gelebten Selbstausdruck.“ ([5], S. 11) Doch sofort relativierte er diese Aussage damit, dass all das auch bei Popmusik vorkomme. Peter Kemper wagte sich in seinem Beitrag am weitesten vor, wenn er Musiker als konkrete Beispiele für bestimmte Entwicklungen benannte. Doch symptomatisch ist sein (ironischer?) Einwurf „man möge mir die Konkretion verzeihen“ ([5], S. 199). In den Beiträgen drückt sich ein gewisser innerer Widerspruch aus. Alle unterstellen implizit ein gemeinsames Verständnis des Jazz-Begriffs, aber keiner wagt es, dieses Verständnis explizit und damit angreifbar zu machen, vermutlich aus dem unguten (und gerechtfertigten) Gefühl heraus, dass dieses gemeinsame Verständnis gar nicht vorhanden ist.

Warum sind wir in diese Situation geraten? Zum einen zeigt die historische Erfahrung (siehe oben), dass der Versuch einer expliziten begrifflichen Abgrenzung immer angreifbar war und der jeweilige Autor nahezu zwangsläufig in die Ecke der ewig Gestrigen gestellt wurde (siehe dazu den Beitrag von Andrew Hurley über J.E. Berendt in [5], S. 37 – 59). Hinzu kommt die Frage der Relevanz dessen, mit dem man sich beschäftigt. Wenn ich mich als Jazz-Kritiker oder -Wissenschaftler betätige oder eine Jazz-Zeitschrift herausbringe, befinde ich mich ohnehin in einer relativ kleinen Nische des Musikmarkts. Wenn ich nun eine Definition des Jazz-Begriffs verträte, die aktuell populäre Entwicklungen ausgrenzt, verringerte ich die Relevanz meines Tuns und möglicherweise auch meinen ohnehin bescheidenen kommerziellen Erfolg.

Dabei sind die Anfeindungen, die jeder Versuch der Begriffsabgrenzung auslöst, heute nicht mehr so verbissen wie in früheren Zeiten (siehe oben). Doch das Totschlagargument „Jazz-Polizei“ ist allgegenwärtig, mit dem jeder, der eine wie auch immer geartete Begriffsabgrenzung versucht, als engstirnig, gestrig und nicht hinreichend offen für neue Entwicklungen abgekanzelt wird. In Marketing-Material und CD-Rezensionen wird es gern als präventiver Erstschlag verwendet, d.h. bevor irgendjemand die Jazz-Zuordnung der jeweiligen Musik auch nur in Frage gestellt hat. Für den kundigen Leser signalisiert die Verwendung des „Jazz-Polizei“-Arguments immer, dass die jeweilige Musik mit Sicherheit kein Jazz im engeren Sinne (d.h. im Sinne von Hank Jones Aussage oben oder der Definition unten) ist. Der jeweilige Autor nimmt damit also (entgegen seiner eigentlichen Intention) genau die Art der Abgrenzung und Kategorisierung vor, die er mit dem Argument angreift. Unter diesen Rahmenbedingungen ist der Untertitel der Zeitschrift JAZZthetik geradezu mutig: Magazin für Jazz und Anderes. Darunter kann man zwar über jedes beliebige Thema schreiben, aber immerhin sagt dieser Untertitel aus, dass es etwas Anderes gibt, also etwas, das nicht Jazz ist.

Und was nun?

Gibt es überhaupt ein Problem? Oder sind nicht alle Beteiligten mit der aktuellen Situation ganz glücklich? Ich meine, wir haben ein massives Problem. Die mangelnde Kategorisierung durch Sprache führt zu fehlender Orientierung und erschwert damit den Zugang neuer Hörer zu Musik bzw. Jazz-Musikern, die sie noch nicht kennen. Durch diese Undefiniertheit hat das Wort „Jazz“ seine Begrifflichkeit verloren (siehe Exkurs). Und durch ihre Verweigerung, ihrer sprachprägenden Rolle gerecht zu werden, verurteilen Jazz-Journalisten und -Wissenschaftler sich selbst zu Randfiguren, die keinen Anspruch mehr auf Deutungshoheit und Einflussnahme erheben.

Wie könnte ein neuer Ansatz aussehen? Wäre es nicht an der Zeit, die heutige Pluralität, um nicht zu sagen Beliebigkeit, die unter dem Wort „Jazz“ vermarktet wird, neu zu sortieren, zu kartografieren, begrifflich zu erfassen, zu kategorisieren und abzugrenzen? Wahrscheinlich müssen wir dazu ganz neue Begriffe kreieren, und zwar unter strikter Trennung von Kategorisierung und Bewertung. Vielleicht können wir diese Begriffe auch nicht gleich abstrakt definieren, sondern müssen uns zunächst mal darauf beschränken, sie durch Aufzählung typischer Beispiele abzugrenzen. Wäre das nicht ein schönes Thema für ein zukünftiges Darmstädter Jazzforum?

Nach dieser langen Vorrede möchte ich mich nicht davor drücken, meine Definition von Jazz explizit zu machen:

Jazz ist eine Musikrichtung, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet:

  • Harmonik: Nutzung erweiterter Akkorde und Blue Notes mit Anlehnung an den Blues
  • Rhythmik: vorwärtstreibender bewegungsorientierter Rhythmus (Swing, Groove), Nutzung von Polyrhythmen und Synkopen
  • Spezielle individualisierte Tonbildung bzw. Phrasierung mittels Schleiftönen und anderen Techniken
  • Zumindest unterschwellig vorhandenes Blues Feeling
  • Anteil improvisierter Abschnitte

Ich bin mir bewusst, dass ich damit eine Menge Musik ausgrenze, darunter Musik, die ich selbst gern höre und positiv bewerte. Die Ausgrenzung dient also ausschließlich zur Kategorisierung, nicht als Qualitätsbewertung. Sie soll die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation verbessern, aber nicht die Offenheit gegenüber neuen musikalischen Entwicklungen beschränken. Wie wäre es mit neuen Bezeichnungen wie Nordic Impro, Impro-Pop oder Modern Romanticism? Kann es uns gelingen, eine solche Diskussion sachlich zu führen, ohne in alte von Dogmatismus geprägte Grabenkämpfe zu verfallen? Ich hoffe es. Hauptsache ist, dass wir aufhören, das Wort Jazz für jede beliebige Musik zu akzeptieren, nur weil irgendjemand sie so vermarktet. Und dass wir uns wieder trauen, über diese Fragen zu streiten!

Hans-Bernd Kittlaus

(bittet um Feedback unter kittlaus@acm.org oder www.hansberndkittlaus.de)

Quellen

[1] Joachim Ernst Berendt, Günter Huesmann: Das Jazzbuch, Fischer, Frankfurt 1999

(und diverse frühere Ausgaben)

[2] John Gennari: Blowin’ Hot and Cool – Jazz and Ist Critics, The University of Chicago Press, Chicago, 2006

[3] Liner Notes in Brad Mehldau: Art of the Trio 4 – Back at the Vanguard, Warner, 1999

[4] Interview mit Hank Jones in Jazz Times, Februar 2009, S. 62

[5] Wolfram Knauer (Hrsg.): Jazz Goes Pop Goes Jazz – Der Jazz und sein gespaltenesVerhältnis zur Popularmusik, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 9,Jazzinstitut Darmstadt, 2006

Kleiner Exkurs in die Linguistik

Die Begriffsbildung in natürlichen Sprachen wie Deutsch oder Englisch basiert grundsätzlich auf Kategorisierung. Zum Beispiel können wir auf ein einzelnes Exemplar in unserem Wohnzimmer deuten und sagen „Dies ist ein Tisch.“ Der Begriff „Tisch“ steht dabei für die Gesamtheit aller Tische, also für eine Kategorie. Da mag es Grenzfälle geben, in denen man nicht sicher ist, ob es sich bei einem Gegenstand um einen Tisch oder eine Bank ohne Lehne handelt. Doch für mindestens 99% aller Gegenstände gibt es einen Konsens der Deutschsprachigen, ob es sich jeweils um einen Tisch handelt oder nicht. Auch in den Wissenschaften gehört die Bildung und Bezeichnung von Kategorien zum elementaren Vorgehen, um das jeweilige Themengebiet zu strukturieren und zu beschreiben. Dabei verändert sich Sprache und ihre Verwendung über die Zeit (deshalb gibt es regelmäßig überarbeitete Ausgaben von Lexika und Wörterbüchern). Neue Phänomene müssen sprachlich erfasst werden (z.B. gab es vor 20 Jahren den Begriff Internet noch nicht), die Verwendung und Bedeutung existierender Begriffe verändert sich (der Begriff „surfen“ stand früher nur für Wellenreiten, heute wird er auch für das Springen von Seite zu Seite im Internet verwendet), oder Begriffe verschwinden aus dem aktiven Sprachgebrauch (wer sagt heute noch „Fräulein“?). Ein Wort wird grundsätzlich dadurch zum Begriff, dass ein gemeinsames Verständnis innerhalb einer Gruppe von Menschen über seine Intension (d.h. Bedeutung, abstrakte Definition) und/oder seine Extension (d.h. Aufzählung der Gegenstände, die von ihm bezeichnet werden) besteht.