Jazzkeller Frankfurt, Sonntag, 21. Februar 2021: Martin Sasse spielt den Flügel mit dieser beeindruckenden Mischung aus Konzentration und Leichtigkeit. „Everything I Love“ von Cole Porter – er ist in seinem Element mit Tony Lakatos am Tenorsaxofon, Martin Gjakonovski am Bass und Schlagzeuger Vladimir Kostadinovic. Zuvor ging einiges schief. Kostadinovic‘ Zug aus Wien kam mit zwei Stunden Verspätung. Also keine Zeit für langes Proben und verspäteter Beginn der Aufnahme. Sasse hatte noch nie zuvor mit Kostadinovic gespielt, aber das merkte man als Zuhörer nicht. Profis eben!
King Georg Jazz Club, Köln, Montag, 22. Februar 2021: die gleiche Band, die gleichen Stücke, aber die Musik klingt schon wieder anders. Der Ballade „Willow Weep for Me“ gibt Martin Sasse gleich zu Beginn ein starkes Blues Feeling, auf das Tony Lakatos voll einsteigt. Am Ende „Just One of those Things“ als Swinger – und swingen können die vier wie der Teufel. Heute im Livestream. Martin Sasse: „Zu Beginn der Corona-Zeit kam mir das mit dem Streaming komisch vor, aber inzwischen habe ich mich voll daran gewöhnt.“
Martin Sasse wuchs in Hamm, Westfalen, auf. Schon als Gymnasiast zog es ihn an die Musikschule Dortmund und in Konzerte im Dortmunder Jazz Club Domicil. „Ich wusste früh, dass ich Jazz spielen wollte. Aber ich war kein Wunderkind, ich musste mir die Dinge erarbeiten.“ Parallel spielte er auch Klassik und begann 1989 ein klassisches Klavierstudium an der Folkwangschule Essen. Ein Jahr später brach er ab und wechselte in den Jazz-Klavier-Studiengang bei Frank Wunsch in Köln. „An der Hochschule habe ich sicher vieles gelernt an Theorie und Technik. Aber im Kern habe ich Jazz in der Szene gelernt, durch das Spielen mit vielen anderen Musikern.“ Er wurde ins Landesjugendjazzorchester NRW berufen, dann auch ins BuJazzO unter Peter Herbolzheimer. Hier entstanden Kontakte und Freundschaften, die bis heute bestehen, etwa mit den Saxofonisten Paul Heller und Peter Weniger oder dem Bassisten Martin Wind. Sehr früh spielte er auch mit Silvia Droste und Tony Lakatos zusammen. Nach dem Studium blieb er in Köln.
Paul Heller erinnert sich: „Wir lernten uns vor 30 Jahren im BuJazzO kennen und hatten dann schnell ein Quintett. Seitdem haben wir immer wieder in unterschiedlichsten Formationen zusammengespielt. Martin ist sich bis heute in seiner stilistischen Ausrichtung treu geblieben. Am Anfang war er – wie wir alle – stärker geprägt durch Vorbilder. Im Laufe der Zeit hat er seine eigene Sprache entwickelt. Heute erkenne ich ihn nach zwei Takten. Im Zusammenspiel sind wir sehr vertraut miteinander, und doch gibt es immer wieder Überraschungen.“
Martin Gjakonovski meint dazu: „Ich kam 1991 nach Deutschland und war zwei Semester hinter Martin an der Kölner Musikhochschule. Wir kamen sehr schnell zusammen durch den Schlagzeuger Hans Braber, der damals Trio Konzerte organisierte. Damals war Martin geprägt von Musikern wie Wynton Kelly, später hat er sich intensiv mit Mulgrew Miller und McCoy Tyner beschäftigt. Martin und Olaf Polziehn waren damals ziemlich allein in Köln als Pianisten mit Straight-Ahead-Ausrichtung, die sich intensiv mit der Jazz-Klavier-Tradition beschäftigten. Ich habe auf Martins Abschlussprüfung gespielt. Am Ende fragte einer der Prüfer „Kannst Du auch was Freieres spielen?“ Darauf sagte Martin ganz trocken „Da stehe ich überhaupt nicht drauf.“ Er bekam trotzdem eine gute Note.“
John Goldsby stieg 1994 als Bassist in die WDR Big Band ein: „Ich kam aus New York nach Köln. Martin fiel mir schnell auf, weil er stark in der amerikanischen Tradition stand und sich mit Meistern wie Wynton Kelly und Red Garland intensiv beschäftigt hatte. Die meisten jüngeren deutschen Musiker wollten damals nur eigene Sachen machen. Wir spielten dann zusammmen mit Hans Braber im Alten Wartesaal, und er kam auch als Gast in die WDR Big Band. Im Laufe der Zeit hat Martin seine Einflüsse internalisiert und seinen eigenen Sound entwickelt. Heute kann ich ihn nach wenigen Takten erkennen. Er kann gleichermaßen gut Solos spielen und begleiten. Und er hat viele Ideen für Projekte, oft auch mit amerikanischen Gästen wie Jimmy Cobb, Scott Hamilton oder Vincent Herring.“
Über viele Jahre hatte Martin Sasse ein festes Trio mit Bassist Henning Gailing und Schlagzeuger Joost van Schaik, mit dem er drei CDs unter dem Titel „Trio Classics“ einspielte. Dazu Pianist Jerry Lu, eine Generation jünger als Sasse: „Als junge Musiker mit Straight Ahead Ausrichtung haben wir die „Trio Classics“ geliebt und ständig gehört. Ich hatte dann auch Unterricht bei Martin. Er gab immer konstruktives Feedback, ehrlich, aber mit Herz. Martin war und ist für mich ein Vorbild, nicht nur als Musiker, sondern auch als Mensch, der das lebt, was er mag.“ Schlagzeuger Niklas Walter: „Durch die Trio Classics bin ich so richtig in Straight Ahead Jazz eingetaucht, in Groove und Swing, und habe viel gelernt. So war Martin für mich schon ein Held, als ich ihn dann durch das Landesjugendjazzorchester NRW 2009 persönlich kennenlernte. Dass ich heute selbst mit ihm spiele, betrachte ich als große Ehre. Er schafft immer eine Wohlfühlatmosphäre und gibt mir das Gefühl, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten.“ Martin Sasse meint: „Es war für meine Entwicklung gut, über längere Zeit ein festes Trio zu haben. Jetzt bin ich an einer Stelle, wo ich mehr davon lerne, immer wieder mit unterschiedlichen Leuten zusammenzuspielen.“ Martin Sasse nimmt jedes seiner Konzerte mit einem kleinen Recorder auf: „Ich will mich weiterentwickeln und verbessern. Dazu analysiere ich die Aufnahmen, um festzustellen, was mir gut oder weniger gut gefällt. Daran arbeite ich dann.“
Sasse ist nicht nur unter MusikerInnen gut vernetzt, sondern auch unter VeranstalterInnen. Häufig wird er angefragt, in Bands und Clubs zu spielen. Die Vernetzung hilft ihm auch bei der Organisation von Tourneen für seine eigenen Projekte. Martin Sasse: „Die organisatorische Seite entstand aus reiner Notwendigkeit. Ich heiratete und wurde Vater. Also musste ich für ein stetiges Einkommen sorgen.“ Dazu Niklas Walter: „Ich kenne keinen anderen Jazz-Musiker in Deutschland, der so viele Konzerte spielt wie Martin.“ Seit 2019 ist Sasse künstlerischer Leiter des King Georg Jazz Clubs in Köln. Dessen Betreiber Dr. Jochen Axer sagt: „Das King Georg und ich selbst profitieren stark von Martins Netzwerk. Er macht ein hervorragendes Programm, ist gut organisiert und findet auch kurzfristig Lösungen, wenn Bands oder Musiker ausfallen.“
Auch als Komponist tritt Martin Sasse in letzter Zeit stärker in Erscheinung. Über lange Zeit war sein „Greatest Hit“ das Stück „Metronom“, benannt nach der Kölner Jazz-Kneipe, in der er gern spielte. Heute komponiert er mehr und verbindet in seinen Konzerten Eigenkompositionen mit Standards. Dazu Paul Heller: „Martins Kompositionen sind im Laufe der Zeit immer stärker geworden. Ich habe mich schon mehrfach dabei ertappt, dass eine meiner eigenen Kompositionen ein Kontrafakt einer Komposition von Martin war.“
Martin Sasse ist sehr glücklich mit seiner aktuellen Situation: „Ich habe das Glück, mit vielen tollen MusikerInnen spielen zu können. Meine grundsätzliche Ausrichtung ist Straight Ahead, aber das ist ein weites Spektrum von Gerd Dudek bis Scott Hamilton. Hauptsache es swingt! Ich liebe Musik. Insofern bin ich nicht nur Musiker, sondern auch Fan.“ Martin Gjakonovski: „Martin ist ein guter Kumpel. Und wir sind uns ähnlich dadurch, dass wir reine Freelancer sind, unser Einkommen also im Wesentlichen aus Konzerten kommt, nur wenig aus Unterricht. Jetzt in der Corona-Krise ist das zwar schwierig, aber wir sind uns einig: wenn wir irgendwann mal auf dem Totenbett liegen, werden wir nicht an Unterrichtsstunden denken, sondern an Sternstunden bei Live-Auftritten.“
Hans-Bernd Kittlaus