North Sea Jazz Festival 2022

Melanie Charles

Melanie Charles (Foto von Karl-Heinz Bechholz)

 

Erfolgreicher Neustart nach Corona-Pause

pdf[1] (erschienen 10/2022)

Drei ausverkaufte Festivaltage mit je 30.000 BesucherInnen, vier neue Bühnen im fertiggestellten Anbau des Rotterdamer Ahoy Centers und niederländische Unbekümmertheit hinsichtlich Corona – North Sea 2022 war ein Fest von Befreiung und Aufbruch. Und das mit einem höchst attraktiven Programm auf insgesamt fünfzehn Bühnen, das auch kritische ZuhörerInnen immer wieder beglückte.

Highlights gab es mehr, als hier ausführlich behandelt werden können: Altsaxofonist Gary Bartz brillierte sowohl mit der britischen Band Maisha als auch in der Roy Hargrove Celebration, einem Tribute an den verstorbenen Trompeter, der auf dem NSJF seinen internationalen Durchbruch hatte. Lizz Wright fesselte das Publikum mit der schieren Schönheit ihrer Stimme, die das riesige Rotterdam Philharmonic Orchestra zu Statisten degradierte. Sängerin Fay Claassen feierte ihr 25-jähriges Bühnenjubiläum mit der fetzigen Big Band des Pianisten Peter Beets. Die südafrikanische Schiene mit den Pianisten Nduduzo Makhathini und Bokani Dyer, dem Posaunisten Malcolm Jivane und der Saxofonistin Linda Tshabalala bestach mit ihrer beeindruckenden Balance von Intellekt und Spiritualität. Die stimmgewaltigen Sängerinnen Ledisi und Lisa Fischer huldigten mit dem Metropole Orkest Nina Simone und produzierten Gänsehaut-Momente, Standing Ovations und Freudentränen. Pianist Tigran Hamasyan bot ein kraftvolles standards-orientiertes Set mit Altsaxofonist Immanuel Wilkins als Gast, der mit seinem eigenen Quartett virtuos auf Coltrane’s Spuren wandelte. Das tat auch Tenorsaxofonist James Brandon Lewis überzeugend. Tineke Postma‘s Freya Group, u.a. mit Bassist Robert Landfermann, demonstrierte eine modernere Stilistik mit faszinierenden melodischen Passagen und intensivem Einander-Zuhören der MusikerInnen. Altmeister Archie Shepp schließlich war im Zusammenspiel mit Pianist Jason Moran körperlich stark eingeschränkt und trotzdem von bewegender Intensität.

Zwei Konzerte möchte ich herausgreifen. Bass-Legende Ron Carter, kürzlich 85 geworden, war mit seinem Foresight Quartet angekündigt, aber wegen Ausfalls des Schlagzeugers wurde daraus ein Trio-Konzert. Mit Pianistin Renee Rosnes und Tenorist Jimmy Greene spielte Carter Standards und Eigenkompositionen in melodisch und harmonisch spektakulärer Weise, die immer ruhig und unspektakulär wirkt. Rosnes zeigte sich als Meisterin harmonischer Variation und kreativer Improvisation, Greene blies konzentriert seine Saxofontöne, ohne sich je in den Vordergrund zu spielen. Was Carter aus dem eigentlich simplen Standard „You are my Sunshine“ in seinem langen Solo machte, wie er die Melodie gleichzeitig zerlegte und zelebrierte, zeigte eine Meisterschaft, wie man ihr höchst selten Zeuge wird. Viel näher an ein perfektes Konzert kann man kaum kommen.

Ron Carter

Ron Carter (Foto von Karl-Heinz Bechholz)

Von ganz anderer Art war der Auftritt der jungen Sängerin und Flötistin Melanie Charles. Auch ihre Band konnte nicht vollständig auftreten, weil der Bassist fehlte. Also verpflichtete sie spontan am Nachmittag den jungen Trompeter Giveton Gelin, der zuvor schon in der Roy Hargrove Celebration als legitimer Nachfolger geglänzt hatte. Gemeinsam mit dem groovy agierenden Keyboarder Zacchae’us Paul und der hart zuschlagenden Schlagzeugerin Savannah Harris bot Melanie Charles eine energiegeladene Show, in der sie ältere Jazz-Gesangstitel wie Marlena Shaw’s „Go Away Little Boy“ oder Betty Carter’s „Jazz Is“ neu interpretierte, mit Hiphop-Elementen verfremdete und mit ihrer soulig emotionalen Stimme veredelte. Gelin blies dazu feurige Trompetenlinien. Ein würdiger Abschluss eines bemerkenswerten Festivals, das Tradition und Zukunft, Kommerz und musikalischen Anspruch zu verbinden wusste.

Hans-Bernd Kittlaus

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NSJF