NSJF 1994

North Sea Jazz Festival 1994
North Sea ’94: Vielfalt oder Beliebigkeit?

pdf[1](erschienen 9/1994)

 

Die neunzehnte Ausgabe des North Sea Jazz Festivals in Den Haag bot die gewohnte breite Mischung aus Jazz und verwandten Musikrichtungen auf 12 Bühnen parallel über drei Tage mit einem Mammutaufgebot von über 1000 Musikern. Die Fußballweltmeisterschaft hatte nur geringen Einfluß auf die Besucherzahlen, die mit 62000 etwa 10% unter dem Rekord des Vorjahres lagen.

Neues Management

Nach dem Tod von Paul Acket, dem Gründer und langjährigen Leiter des Festivals, im Herbst 1992 hatte dessen Familie das Festival 1993 höchst erfolgreich geleitet, wollte sich dann aber die damit verbundenen Strapazen bei geringer Entlohnung nicht mehr zumuten. Das Management des diesjährigen Festivals bernahm eine Konzertagentur in Den Haag, die zuvor vorwiegend im Pop-Bereich tätig gewesen war und diese gewaltige Organisationsaufgabe auf Anhieb bewältigte. Dabei wurde weitgehend an Bewährtem festgehalten und nur kleinere Änderungen vorgenommen, etwa mehr Fernsehaufnahmen (was für das Publikum sehr störend war) oder mehr Programmschienen auf einzelnen Bühnen (was einem großen Teil des Publikums sicher angenehm war), zum Beispiel ‚Latin American Night‘ oder ‚Vibes Giants‘.

Big Bands

Oft totgesagt, aber immer noch erstaunlich vielfältig und lebendig bildeten die Big Bands einen der Programmschwerpunkte. Zum Auftakt gab es allerdings eine Enttäuschung, denn Bobby Watson’s Tailor-Made Big Band konnte nicht die Erwartungen erfüllen, die die hochkarätige Besetzung bestehend u.a. aus seiner Gruppe Horizon und dem 29th Street Saxophon Quartet geweckt hatte. Die Band wirkte müde und schlecht abgestimmt, die mangelhafte Leistung des Toningenieurs tat ein Übriges. Ganz anders dagegen die Mingus Big Band, die jeden Donnerstagabend im New Yorker Time Cafe zusammenkommt, um die Musik von Charles Mingus am Leben zu halten. Gespickt mit Musikern wie den Trompetern Randy Brecker and Philip Harper, den Saxofonisten Craig Handy und John Stubblefield, Posaunist Frank Lacy und Pianist Kenny Drew Jr. bot die Band ausgefeilte Arrangements und mitreissende Spielfreude. Slide Hampton und seine Jazz Masters waren der Festival Hit des letzten Jahres gewesen. Dieses Mal war die Band allerdings von Ausnahmen abgesehen wesentlich schwächer besetzt, was sich in der Qualität der Musik niederschlug. In Erinnerung blieben nur Saxofonist Jerome Richardson und Pianist Kei Akagi mit guten Soli.

Tenorsaxofonisten

Charles Lloyd begann den Reigen der Tenorsaxofonisten mit einem energiegeladenen Set, der eine mitunter geradezu schmerzhafte Intensität erreichte. Sein nordisches Trio mit Pianist Bobo Stenson, Bassist Anders Jormin und Drummer Alex Riel stand ihm nicht nach. Zusammen boten sie einen der schönsten Sets des Festivals. Altmeister Johnny Griffin trat mit Roy Hargrove’s Rhythm Section auf. Er hat nicht mehr den Ehrgeiz, der schnellste Saxofonist der Welt zu sein, sondern ließ es langsamer angehen, konzentrierte sich auf wunderschöne Balladen. Das war angenehm anzuhören, doch die Show stahl ihm mehrfach Pianist Peter Martin mit kreativen ausdrucksstarken Soli.

Trompeter Hargrove trat in Anlehnung an seine neue CD ebenfalls in der Schiene ‚Tenors of Today‘ auf und hatte neben Ron Blake als ständigem Mitglied seiner Gruppe Johnny Griffin und Joshua Redman als Gäste dabei. Redman hatte zuvor mit seiner eigenen Gruppe enttäuscht, als er auf totale Ermüdung zurückzuführende mangelnde Inspiration durch erzwungen emotionales Spiel auszugleichen suchte. So war denn Ron Blake überraschender Sieger dieses Tenorsax Battles. Hargrove selbst entwickelt sich zunehmend weiter, ist nicht mehr nur Meister des Hardbop Power Sounds, sondern spielt

sehr überzeugend auch Balladen auf dem Flügelhorn. Seine Band, neben Blake und Martin mit Bassist Rodney Whitaker und Drummer Greg Hutchinson, gehört zu dem Besten, was der Jazz zur Zeit zu bieten hat.

Die hohe Schule des Tenorsaxofons zelebrierten Joe Henderson, der in den letzten Jahren zum Superstar gemacht wurde, und Teddy Edwards, in Europa kaum bekannt. Henderson wirkt zwar noch immer etwas verloren auf großen Bhnen, aber die Eleganz seines Spiels wie auch seine Gruppe mit der südafrikanischen Piano-Neuentdeckung Bheki Mseleku und dem bewährten Rhythmusgespann Bassist George Mraz und Schlagzeuger Al Foster ließen das rasch vergessen. Teddy Edwards ist zwar häufig in seinem Heimatort Los Angeles live zu erleben, macht sich aber ansonsten rar. In Den Haag demonstrierte er seinen kräftigen Tenor Sound und seine Meisterschaft, Dynamik als Element der Improvisation einzusetzen. Unterstützt von einem soliden holländischen Trio gab der 70-jährige Bebop-Musiker der ersten Stunde, dessen Aussehen sein Alter Lügen strafte, eine Lehrstunde in kultiviertem swingendem Saxofonspiel.

Pianisten

Kein anderes Instrument war in Den Haag so qualitativ und quantitativ stark besetzt wie das Klavier. Oscar Peterson hat sich erstaunlich gut von seinem Schlaganfall im letzten Jahr erholt und bot zur Freude des Publikums einen heftig swingenden Set mit Bassist Niels Henning Oersted Pedersen, Gitarrist Lorne Lofsky und Drummer Martin Drew. Der letzte Festivaltag brachte ein Überangebot an Jazz Pianisten, das für Fans Himmel und Hölle gleichzeitig war, da man nicht alles besuchen konnte. Cyrus Chestnut spielte fulminant swingend hauptsächlich Eigenkompositionen, und es bedarf keiner besonderen Prophetie, diesem früheren Betty Carter Begleiter eine große Zukunft vorauszusagen. Der aktuelle Begleiter Betty Carters, der französiche Nachwuchspianist Jacky Terrasson, war mit seinem sparsam erdigen Spiel der dominierende Musiker in Betty’s Trio. Kenny Barron und sein Schlagzeuger Ben Riley waren zwar gerade erst aus USA eingeflogen und dementsprechend ermüdet, boten aber zusammen mit Bassist Wayne Dockery trotzdem einen ansprechenden Set, der demonstrierte, warum Barron seit Jahren einer der gefragtesten Pianisten der Jazz-Szene ist. Eine gewisse Verwandschaft mit dem nach ihm auftretenden Hank Jones, vor allem in der Anschlagkultur, ist deutlich. Barron nannte ihn sein Idol, und Jones brillierte mit seinen gefühlvollen Interpretationen von Standards und Eigenkompositionen. Am gleichen Abend waren außerdem zu sehen Tommy Flanagan mit der Riverside Reunion Band, einer überwiegend recht müden Altherrenformation, John Hicks mit Steve Grossman, Bheki Mseleku mit Joe Henderson, Geri Allen mit Ornette Coleman und Michel Petrucciani. Zuviel des Guten! Eine gleichmäßigere Verteilung auf die drei Festivaltage wäre besser gewesen.

SängerInnen

Cassandra Wilson wirkte und klang unendlich melancholisch, der Sound ihrer ungewöhnlich besetzten weitgehend akustischen Band mit Gitarrist Brandon Ross und Geiger Charlie Burnham, stark vom Südstaaten-Blues geprägt, verband sich vorzüglich mit ihrer dunklen Stimme. Die Songs reichten vom Blues bis hin zu Pop wie auf ihrer letzten exzellenten CD ‚Blue Light Till Dawn‘. Betty Carter begeisterte das Publikum wieder einmal mit ihrem lautmalerischen Gesang, ihrer Ausdruckskraft und ihrem Elan. Ihr neues Trio wird deutlich dominiert vom französischen Nachwuchspianisten Jacky Terrasson. Jeanie Bryson, die Tochter Dizzy Gillespies, trat mit Terence Blanchard auf, der bei weitem nicht so brilliant aufspielte wie in den Vorjahren. Ohne Saxofonisten an seiner Seite wirkte er etwas gehetzt. Auch Jeanie Bryson konnte nicht recht überzeugen, ihre Stimme erschien noch dünner als auf ihren CDs und auch ihre interpretativen Fähigkeiten bei Billie Holiday Titeln hielten sich in Grenzen.

Bobby McFerrin kam mit seinem Klaviertrio, das allerdings nicht über Mittelmaß hinauskam. McFerrin war am besten, wenn er seine Stimme instrumental einsetzte. Sobald er Text sang, wurde seine Stimme sehr leicht und seicht, wie man das von seinem Hit ‚Don’t Worry Be Happy‘ im Ohr hat. Das Publikum war trotzdem begeistert, besonders

wenn es selbst singen durfte. Natalie Cole bot eine sehr glatte Show mit dem perfekt eingespielten finnischen UMO Jazz Orchestra. Sie sang erwartungsgemäß eine Reihe von Titeln, die mit ihrem Vater Nat King Cole verbunden sind, sowie einige Standards. Das war alles geschmackvoll, gut arrangiert, aber zu steril. Da kann man sich gleich die CD anhören. Als Neuentdeckungen des Festivals wurden gerhmt die israelische Sängerin Noa im Duo mit dem Gitarristen Gil Dor sowie die Amerikanerin Olori.

Als echter Höhepunkt am Ende des Festivals erwies sich der Set von Oleta Adams, die sich selbst am Klavier begleitetend nur mit Bassist und Schlagzeuger auftrat. Selbst die Organisatoren waren überrascht, daß Oleta Adams den großen PWA Saal zweimal füllen konnte. Ihre Musik liegt im Bereich Soft Pop, Soul und Entertainment, wobei ihre Gospel-Wurzeln immer wieder durchscheinen. Ihr Stimmvolumen und ihre Musikalität, zum Beispiel mit ‚New York State of Mind‘, rissen das Publikum auch nach fast 30 Stunden Musik innerhalb von drei Tagen noch zu Begeisterungsstürmen hin.

Ausblick

Das neue Management des Den Haager Festivals hat seine Feuertaufe bestanden. Die Finanzierung scheint bis auf weiteres gesichert. Damit sollte die Zeit bis zur nächsten Ausgabe, geplant für den 14. bis 16.7.1995, genutzt werden, an einigen Defiziten zu

arbeiten. Den Haag hat schon oft den Vorwurf bekommen, wie ein Supermarkt zu funktionieren, doch dem wirkte immer die besondere Atmosphäre des Festivals entgegen, die sich nicht aufs bloße Nebeneinanderstellen beschränkte, sondern durch Jam Sessions und spontane Einstiege nicht angekündigter Musiker besondere Momente hervorbrachte. Das fehlte dieses Jahr weitgehend. Viele Musiker wirkten gehetzt, manche auch völlig übermüdet wie etwa Kenny Barron, Joshua Redman und seine Gruppe oder Bobby Watson’s Big Band. Natürlich ist für die Musiker Zeit Geld, aber die Qualität der Darbietung leidet zwangsläufig, wenn die Musiker aus USA einfliegen und am selben Abend noch auftreten. Wenn sich jemand dagegen zur Wehr setzen kann, dann das Den Haager Management.

Das diesjährige Festival spiegelte deutlich wieder, daß der Begriff Jazz inzwischen so weit gefaßt wird, daß er sich zur Klassifizierung kaum noch eignet. Natürlich erfreuten sich Fusion und Blues starken Publikumsinteresses. Darüber hinaus wird die Vermischung mit Volksmusik aus aller Welt immer stärker. So trat Toots Thielemans bei seinem Brazil Project mit brasilianischen Jazz und Pop Musikern auf. Ornette Coleman, neben dem holländischen Drummer Pierre Courbois und der Dutch Swing College Band einer der Preisträger des diesjährigen Bird Awards, wirkte mit seinem kräftigen Rock Rhythmus

da fast schon altmodisch. Die jungen Saxofonisten Steve Coleman und Greg Osby experimentierten mit Rap und Hip Hop, haben aber das Problem der mangelnden rhythmischen Vielfalt des Rap noch nicht lösen können. Neoklassizisten wie Wynton Marsalis und Roy Hargrove pflegten erfolgreich alte Stilrichtungen. Jazz 1994, Vielfalt oder Beliebigkeit, Suche nach musikalischer Weiterentwicklung oder nach Marktlücken? Allgemein gültige Antworten konnte letztlich auch Den Haag nicht bieten.

Hans-Bernd Kittlaus