North Sea Jazz Festival 2014
Rotterdam im Glück
Nach dem guten Erfolg des Vorjahres konnte das Port of Rotterdam North Sea Jazz Festival nochmals zulegen. Schon Wochen vorher waren alle drei Festivaltage ausverkauft, was sicherlich vor allem an Pop-Stars wie Pharell Williams, Stevie Wonder, Nile Rodgers und vielen anderen lag. Doch auch das Jazz-Angebot war stark wie lange nicht mehr dank Stars wie Gregory Porter, der ca. 10.000 Menschen in eine der Hallen zog, Natalie Cole oder Quincy Jones, aber auch mit einem spannenden Programmmix. Und wem das nicht zur Glückseligkeit reichte: rechtzeitig zum Ende des letzten Festivaltages schoss Mario Götze Deutschland zur Fußballweltmeisterschaft.
Porter sang gewohnt souverän mit seiner langjährigen Band und begeisterte das Publikum besonders, als er eine Gruppe von sechs holländische Mädchen auf die Bühne bat, die er auf Youtube zu seiner Musik hatte tanzen sehen. Den Paul Acket Award bekam der Trompeter Ambrose Akinmusire, der seinen Set an seiner letzten CD „The Imagined Savior Is Far Easier To Paint“ (Blue Note) ausrichtete. Die Musik erinnerte stark an das deutsche Kunstlied, aber nicht gänzlich klassisch, sondern mit Jazz-Elementen dargeboten. So war es konsequent, dass Akinmusire mit Theo Bleckmann einen deutsch-stämmigen Sänger dabei hatte, der diese Mischung aus Kunstlied und Jazz verkörpert. Akinmusire und seine Band zeigten sich nicht in Top-Form, und das Publikum blieb verhalten. Trompetenkollege Tom Harrell demonstrierte überzeugender, wie sich gelungene Kompositionen, sein lyrischer Trompetenton und Gesang verbinden lassen. So gab er seiner zweiten Bassistin Esperanza Spalding viel Raum als Sängerin. Für einen musikalischen Wettstreit sorgten seine Saxofonisten Wayne Escoffery und Jaleel Shaw angetrieben vom dynamischen Johnathan Blake am Schlagzeug. Pianist Robert Glasper und seine Band wurden von Vince Mendoza’s süßlichen Arrangements für das Metropole Orchestra verschüttet. Altmeister Henry Threadgill zelebrierte seine sehr intellektuelle Musik überwiegend an der Flöte, mit guten Solos unterstützt von Gitarrist Liberty Ellman und José Davila an Posaune und Tuba. Einen Höhepunkt lieferte Pharoah Sanders, der mit seinem Quartett so spielfreudig und ausdauernd wie lange nicht auf Coltrane’s Spuren wandelte. Die in Europa wenig bekannte Flötistin und Komponistin Jamie Baum überzeugte mit abwechslungsreichen Arrangements, die von ihrem Nonett inspiriert dargeboten wurden. Solistisch ragten dabei Gitarrist Brad Shepik und der immer besser werdende John Escreet am Klavier heraus. Auf konventionelleren Pfaden bewegte sich Pianist Peter Beets, der mit seinem New York Trio mit Bassist Ruben Rodgers und Schlagzeuger Greg Hutchinson ein mitreißendes Tribute an Oscar Peterson lieferte, in dem er überwiegend Peterson-Kompositionen wie „Nigerian Marketplace“ spielte.
Auch der diesjährige Artist-in-Residence, Bassist Christian McBride, blieb bei seinen drei Auftritten in Mainstream-Gefilden, aber auf höchstem Niveau. Sein Trio mit dem hochtalentierten jungen Pianisten Christian Sands und Rodney Green am Schlagzeug überzeugte mit Swing, Blues und einem gelungenen Mix aus Standards und Eigenkompositionen. Für sein Quintett Inside Straight erweiterte er das Trio um Warren Wolf am Vibraphon und Altsaxofonist Steve Wilson. Wolf erwies sich als Nachkomme von Milt Jackson und Bobby Hutcherson, der mit nur zwei Schlegeln mit atemberaubender Geschwindigkeit melodisch improvisierte. Wilson brillierte mit seinem schönen kraftvollen Alt-Sound. McBride hat sich zu einem richtigen Leader entwickelt, der sein sonores Bassspiel in der Tradition von Ray Brown mit souveränen und unterhaltsamen Ansagen verbindet. Das wurde besonders bei seinem Big Band Auftritt deutlich, für die er seine Band um einige der besten niederländischen Jazzer erweiterte. Den stärksten Eindruck bei allen drei Auftritten hinterließ Sands, der mit Mitte 20 bereits über ein enormes Spektrum von pianistischen Qualitäten verfügt, von der Technik über den Ideenreichtum bis zum Gefühl für Rhythmus und Dynamik.
Ein Schwerpunkt des Festivals lag auf New Orleans. Eine deutlich verjüngte Preservation Hall Jazz Band spielte ebenso vergnüglich auf wie die Rebirth Brass Band. Der junge Pianist Jon Batiste und seine Stay Human Band verbanden Entertainment mit musikalischem Niveau und brachten das Publikum zum Tanzen. Der ewige Nighttripper Dr. John, wie immer mit Totenkopf auf dem Flügel, bot ein lebendiges Tribute an Louis Armstrong. Starsolist war dabei Nicholas Payton, der seine Trompete ein ums andere Mal mit einem Feuer erklingen ließ, wie man es in den letzten Jahren kaum von ihm gehört hat. Als weiteres Festival-Highlight erwies sich der Auftritt von New Orleans Pianist Henry Butler mit Avantgarde Trompeter Steven Bernstein und ihren Hot 9. Bernstein’s Arrangements ließen Butler viel Freiraum für sein authentisches Klavierspiel, gaben aber gleichzeitig der mit New Yorker Musikern exzellent besetzten Band Möglichkeiten zu Ausflügen in modernere Gefilde, insbesondere in ihren Soli. Schlagzeuger Donald Edwards, gebürtig aus New Orleans, sorgte im Tandem mit Bassist Brad Jones für den ansteckenden Rhythmus – stehende Ovationen.
Der norwegische Saxofonist Marius Neset peppte sein Konzert mit dem Trondheim Jazz Orchestra mit seinen emotionalen Soli auf, was der etwas trocken anmutenden Mischung aus Folk Songs mit Jazz guttat. Die Altsaxofonisten Tineke Postma und Greg Osby wollten demonstrieren, dass ein Quintett mit zwei Altsaxofonen Sinn machen kann. Trotz guter Besetzung mit Pianist Matt Mitchell, Bassistin Linda Oh und Schlagzeuger Dan Weiss blieb der Auftritt farblos und zerfahren, was sicherlich daran lag, dass die Band überhaupt nicht eingespielt war. Dass die gleiche Instrumentenbesetzung gut funktionieren kann, zeigte wenig später das Quintett des Pianisten Loran Witteveen, Gewinner der Dutch Jazz Competition. Quincy Jones spielt schon lange nicht mehr selbst, sondern präsentierte drei Nachwuchsmusiker, die er unter seine Fittiche genommen hat. Der sechzehnjährige slowakische Gitarrist Andreas Varady spielte im Trio mit Bruder und Vater virtuos und recht traditionell. Der kubanische Pianist Alfredo Rodriguez brillierte im Trio mit kubanischen Rhythmen, schnellen Läufen und hoher Musikalität. Die dritte im Bunde, Sängerin Nikki Yanofski, zeigte sich nicht immer geschmackssicher in ihrer Weiterentwicklung in Richtung Pop. Komponist, Arrangeur und Dirigent Darcy James Argue führte sein Opus Magnum „Brooklyn Babylon“ auf. Leider brachte seine New Yorker Secret Society Big Band diese exzellente Komposition nicht angemessen zum Leuchten, sondern wirkte müde und lustlos. Das Sun Ra Arkestra feierte unter Leitung von Saxofonist Marshall Allen, auch schon neunzig, den hundertsten Geburtstag seines Gründers mit einer farbenfrohen Show, in der Tänzerinnen Ausdruckstanz zu der immer noch ausdrucksstarken Musik aufführten. Die junge englische Band Sons of Kemet war schon beim letzten Berliner Jazzfest positiv aufgefallen. In Rotterdam boten sie Power Jazz mit zwei Schlagzeugern, die Shabaka Hutchings am Tenorsaxofon und Theon Cross an der Tuba zu großartigen Energieleistungen anspornten. Trompetentrios sind recht selten, stellen sie doch enorme Ansprüche an die Physis des Trompeters. Umso bemerkenswerter war der Auftritt des Triveni Trios des israelischen Trompeters Avishai Cohen mit Bassist Yoni Zelnik und Schlagzeuger Nasheet Waits. Cohen überzeugte mit melodischem Spiel, Dynamikvielfalt und brillianter Technik, Waits setzte intelligente rhythmische Akzente. Ein weiteres Highlight bot Cécile McLorin Salvant. Die junge Sängerin zeigte den Stand ihrer Entwicklung zu dem, was Nancy Wilson immer als Song Stylist bezeichnet. Sie machte Anleihen bei Betty Carter mit „What a Little Moonlight Can Do“ und bei Ella mit „Wives and Lovers“, doch formte sie daraus etwas ganz Eigenes mit ihren sehr abwechslungsreichen Arrangements. Großen Anteil am Gelingen hatte ihr großartiges Trio mit Pianist Aaron Diehl, Bassist Paul Sikivie und Jamison Ross, dem Gewinner des jüngsten Monk Wettbewerbs für Schlagzeug, die mal mit subtilstem Feingefühl agierten, mal heftig swingten. Diese Sängerin wird uns noch viel Freude machen.
Jan Willem Luyken und sein Organisationsteam konnte man zu dieser Festivalausgabe nur beglückwünschen. Sie haben mit beständiger Optimierung die anfänglichen Schwächen des Ahoy Centers ausgemerzt, einen guten Schritt nach vorn beim Verpflegungsangebot gemacht und balancieren gekonnt zwischen Besucherzufriedenheit und Kommerz. Wenn es dieses Jahr einen Kritikpunkt gab, dann betraf er einige offenbar vom Rock kommenden Tontechniker, die des Öfteren die Lautstärke übertrieben und vor allem den Bass zu stark aufdrehten. Das 40-ste North Sea Jazz Festival soll vom 10. bis 12. Juli 2015 stattfinden und wird es schwer haben, das 39-ste zu übertreffen.
Hans-Bernd Kittlaus