NSJF 1992

North Sea Jazz Festival 1992
North Sea – Quo Vadis?

pdf[1](erschienen 9/1992)

 

Da konnten sich Organisator Paul Acket und seine Helfer noch so betont positiv geben – die Krise war unübersehbar. Die siebzehnte Ausgabe des North Sea Jazz Festivals in Den Haag brachte eine Reduzierung des Programms von über 30 Stunden Musik auf etwa 25 Stunden (aber nach wie vor parallel auf 13 Bühnen) und von 4 auf 3 Festivaltage, nachdem der in den letzten beiden Jahren hinzugefügte vierte Tag nicht die nötige Zuschauerresonanz gefunden hatte. Mit etwa 60.000 Zuschauern war erstmalig in Den Haag ein Rückgang der Besucherzahl zu verzeichnen.

Dabei waren Programm und Preise durchaus attraktiv. Doch die Lücken, die der Tod von legendären Musikern wie Sarah Vaughan, Stan Getz und insbesondere Miles Davis in den letzten zwei Jahren gerissen hat, lassen sich nicht so bald schließen. Hinzu kam, daß mit Dizzy Gillespie, Lionel Hampton und Sergio Mendes gleich drei ursprünglich angekündigte Publikumsmagneten dem Festival (zumindest in den ersten beiden Fällen krankheitsbedingt) fernblieben.

All Star Groups

Es ist sicher kein Zufall, daß in diesem Jahr eine Reihe von echten All Star Groups versucht, diese Lücken auszunutzen. Am deutlichsten wird das bei der Miles Davis Tribute Band – man beachte, daß ‚Miles Davis‘ inzwischen ein juristisch geschütztes Warenzeichen ist. Herbie Hancock, Ron Carter, Tony Williams und Wayne Shorter luden den jungen Trompeter Wallace Roney ein, auf einer einjährigen Welttournee mit ihnen die Musik von Miles Davis zu feiern. In Den Haag boten sie den Miles der Mitte der 60er Jahre in einem überzeugenden Set, in dem Roney sich seinen erfahrenen Mitspielern ebenbürtig erwies, ohne am übermächtigen Original zu kleben.

Die ‚To Diz With Love‘ Band bot auch ohne Dizzy Gillespie unter Leitung von Posaunist Slide Hampton swingende Musik, angetrieben von dem immer besser werdenden Pianisten Danilo Perez, Bassist George Mraz und Drummer Lewis Nash. Mit Freddie Hubbard, Red Rodney und Claudio Roditi sowie Roy Hargrove als Gast war hier die höchstkarätige Trompetensektion des Festivals zu erleben, auch die Saxophonisten James Moody und Jimmy Heath hatten Gelegenheit zu guten Solos.

Die Besetzung von Gerry Mulligan’s ‚Rebirth of the Cool‘ Gruppe mit Art Farmer, Lee Konitz und Rob McConnell versprach mehr, als das Konzert halten konnte. Mit größter Lustlosigkeit wurden hier 50er Jahre Arrangements heruntergespielt. Wesentlich mehr Begeisterung konnten George Wein’s Newport All Stars auslösen. Der gesundheitlich sichtlich angeschlagene Trompeter Clark Terry spielte einige gefühlvolle Solos, Kornettist Warren Vache und die Saxophonisten Scott Hamilton und Jesse Davis hatten herausragende Momente, und Publikumsliebling Al Grey erntete mit seinen Growl-Posaunentönen einmal mehr Ovationen. Mit der solide swingenden Rhythmusgruppe mit Gitarrist Howard Alden, Bassist Ed Jones und Schlagzeuger Oliver Jackson konnte auch Hobby-Pianist George Wein, hauptberuflich Produzent von Jazz Festivals wie New York und Nizza, nicht mehr viel falsch machen.

Deutlich moderner und genauso überzeugend war die Musik der New York Jazz Giants. Der exzellente Pianist Mulgrew Miller, Baß-Haudegen Ray Drummond und der junge Schlagzeuger Carl Allen legten den rechten Rhythmusuntergrund, auf dem Altsaxophonist Bobby Watson Lew Tabackin am Tenor zu ungewohnt temperamentvollen Solos mitriß. Trompeter Tom Harrell brachte die lyrische Note ein, konnte und wollte aber mit der Stratosphären-Trompete von Jon Faddis nicht mithalten.

Die Gruppe Roots feiert das Saxophon im Hinblick auf dessen 150-sten Geburtstag und den 100-sten Todestag von Erfinder Adolphe Sax 1994. Arthur Blythe, Nathan Davis, Chico Freeman und Sam Rivers machten dem Instrument Ehre. Vor allem Davis glänzte mit dem Sopran. Pianist Don Pullen trieb die Solisten immer wieder mit seinem Blockakkord-Staccato an, Bassist Santi Debriano und Schlagzeuger Tommy Campbell lieferten packenden Rhythmus und farbige Akzente.

Auszeichnungen

Mit dem alljährlich vergebenen Bird Preis wurden in diesem Jahr erstmals keine Musiker ausgezeichnet, sondern Produzent Norman Granz, der Mann hinter Jazz at the Philharmonic und den Platten-Labels Verve und Pablo, sowie die holländischen Radiomacher Pete Felleman und Michiel de Ruyter. Der erstmals vergebene Gitarrenpreis ging an das Stochelo Rosenberg Trio, was nicht nur als Anerkennung für den jungen Gitarristen in der Tradition Django Reinhardts zu sehen ist, sondern auch für den Zigeunerjazz im allgemeinen, der seit langem einen festen Platz im Den Haager Programm hat.

Midsummer Jazz Gala

Gewarnt seien alle Jazz-Freunde vor der Midsummer Jazz Gala, die nicht zum Festival selbst gehört, aber seit zwei Jahren jeweils am Vorabend des Festivals stattfindet. Dies ist eine Veranstaltung für die Sponsoren des Festivals, die ihre Geschäftsfreunde dazu einladen können. Die Besucher, die den überaus stolzen Preis von 185 Gulden pro Kopf für Buffet und Musik aus eigener Tasche zahlten, durften sich im hinteren Drittel des Zeltes drängen, die Geladenen, die zu mindestens 50 Prozent das Ganze als gesellschaftliches Ereignis betrachteten und sich für die Musik überhaupt nicht interessierten, nahmen die vorderen zwei Drittel ein und sorgten für einen permanenten erheblichen Lärm, der jeden Musikgenuß zunichte machte und offensichtlich auch die Musiker störte. Mit Roy Hargrove’s Quintett, Rachelle Ferrell, George Wein’s Newport All Stars und Tony Bennett als Stargast hätte es ein guter Abend sein können. So war es ein Ärgernis, es sei denn, man wollte sich schon immer mal mit so wichtigen Persönlichkeiten wie dem ukrainischen Postminister am (guten!) Buffet drängeln.

Gesang

Über großen Publikumszuspruch konnten sich pop-orientierte Gesangsstars wie Lou Rawls, Roberta Flack und Rickie Lee Jones freuen. Das war es vermutlich, was Rachelle Ferrell, die gefeierte Entdeckung des letztjährigen Festivals, bewogen hat, sich in diese Richtung zu bewegen. Bot sie im letzten Jahr faszinierende Interpretationen von Standards mit einem akustischen Trio gestandener Jazz Musiker, so kam sie in diesem Jahr mit einer stark elektrifizierten Fusion Gruppe und gestaltete ihr Programm zu einem großen Teil mit seichten Pop Songs, die ihr wenig Möglichkeiten zur Entfaltung ließen.

Dianne Reeves hat bereits einen Flop im Pop-Jazz Bereich hinter sich. Ihre rein akustische Gruppe mit Perkussionist Dr. Leonhart Gibbs demonstrierte, daß man auch ohne Elektrifizierung höchst funky spielen kann. Reeves glänzte vor allem mit ungewöhnlichen Interpretationen von ‚Summertime‘ und ‚Love for Sale‘, wobei sie auch ihre Fähigkeiten als Scat-Sängerin unter Beweis stellte.

Die Meisterin des Scat-Gesangs schlechthin, Betty Carter, zeigte sich in bestechender Form. Mit Pianist Cyrus Chestnut, Bassist Curtis Lundy und Schlagzeuger Clarence Penn hatte sie das beste Trio seit Jahren dabei. Vor allem der junge Chestnut bewies, daß mit ihm auch als Solist in den nächsten Jahren zu rechnen sein wird. Betty Carter hatte einige neue Songs in ihrem Repertoire, zum Beispiel eine schöne Version von John Hicks‘ ‚Naima’s Love Song‘, und erntete verdientermaßen stehende Ovationen.

Highlights

Die North Sea Organisatoren setzen auf den Nachwuchs. Zum Glück gibt es eine Reihe junger Musiker, die das Zeug haben, in die Fußstapfen der Altmeister zu treten. Zuerst ist da Wynton Marsalis zu nennen, der mit seinem spielfreudigen Septett inzwischen einen breiten Bereich vom New Orleans-Stil über den Bebop bis zu modernen Jazz Kompositionen gleichermaßen brilliant darbietet. Sein Sound hat inzwischen auch nicht mehr permanent die klassische Sauberkeit, die viele Jazz Fans in der Vergangenheit störte.

Ein weiterer Trompeter, Roy Hargrove, konnte beeindrucken. War er als Gast der Dizzy Gillespie Tribute Gruppe schon positiv aufgefallen, so geriet der Auftritt mit seinem Quintett zum Triumph. Altsaxophonist Antonio Hart war ihm ein ebenbürtiger Partner, das Trio mit Marc Cary, Rodney Whitaker und Greg Hutchinson lieferte druckvollen Rhythmus. Die Gruppe spielte Bebop mit solcher Spielfreude, solchem Drive, daß das Publikum sie gar nicht mehr von der Bühne lassen wollte.

Der Pianist Benny Green ist deutlich beeinflußt von Bobby Timmons, was vermutlich auf seine Zeit mit Art Blakey’s Jazz Messengers zurückgeht. Im Trio mit Bassist Christian McBride und Schlagzeuger Billy Drummond bestach er durch seine Energie, seinen Ideenreichtum und dieses gewisse innere Feuer, das so im Gegensatz steht zu seinem eher braven äußeren Erscheinungsbild.

Es sind nicht nur Amerikaner, die Anlaß zur Hoffnung geben. Umjubelt war auch der Auftritt des holländischen Quintetts von Saxophonist Ben van den Dungen und Trompeter Jarmo Hoogendijk. Hier wurde High Energy Hardbop auf mitreißende Art geboten, und man hätte sich nur mal einen besinnlicheren Titel zwischendrin zum Luftholen gewünscht.

Doch es gibt nicht nur die Alten und die Jungen, es gibt auch die mittlere Generation. McCoy Tyner brachte seine Big Band nach Den Haag, die gespickt war mit einigen der besten Musikern, die New York zu bieten hat. Zu nennen sind der immer ausdrucksstärker spielende Bassist Avery Sharpe, die Posaunisten Steve Turre und Frank Lacy, Trompeter Virgil Jones und die Saxophonisten John Stubblefield und Billy Harper. Hier spürte man die Begeisterung, den Spaß der Musiker an dieser Musik.

Mit Archie Shepp und Pharoah Sanders waren zwei der Urväter des Free Jazz zu hören, beide heute gemäßigter, undogmatischer als vor 25 Jahren, aber noch immer mit diesem mächtigen Sound auf dem Tenorsaxophon. Archie Shepp ließ seine Free Jazz Vergangenheit nur noch gelegentlich durchscheinen, bei Pharoah Sanders hingegen war sie gleich vom ersten Titel an präsent. Dies war nicht der Free Jazz, der in Verruf geriet, weil er zwecks totaler Freiheit zuviel über Bord warf inklusive der Kommunikation der Musiker untereinander und mit dem Publikum. Für Sanders geht es um erweiterte Ausdrucksmittel inspiriert von seiner tiefen durchdringenden Religiosität und seinen afrikanischen Wurzeln. So war gerade das intensive Zusammenspiel von Sanders und seinem exzellenten Trio mit Pianist William Henderson, Bassist Stafford James und Drummer Idris Muhammad bemerkenswert. Am Ende tanzte das Publikum zu Sanders‘ ekstatischen Tönen. Ein großartiger Abschluß des Festivals: Selbst der Free Jazz lebt.

Ausblick

Trotz Krise offerierte das North Sea Jazz Festival wieder eine erstaunliche Menge guter Musik. Der Zuschauerrückgang hatte auch Vorteile, nämlich weniger Gedränge zumindest an zwei der drei Festival-Tage. So blickte denn Paul Acket optimistisch in die Zukunft, hatte er doch bereits Sponsorenverträge in der Tasche, die die Finanzierung des Festivals für die nächsten Jahre sichern. Zunächst allerdings plant er das Jazz Mecca in Maastricht vom 30.10. bis 1.11.92, übrigens in Verbindung mit der ersten europäischen Jazz Education Konferenz. Der nächste North Sea Termin liegt auch schon fest: 9. bis 11.7.93.

Hans-Bernd Kittlaus