NSJF 1993

North Sea Jazz Festival 1993
Northsea ’93: Weiterleben nach dem Tode

pdf[1](erschienen 9/1993)

 

Zweifel hatte es viele gegeben, ob und wie das Northsea Jazz Festival weiterbestehen konnte nach dem Tod von Gründer und Organisator Paul Acket im Oktober vergangenen Jahres. Doch der hatte rechtzeitig mit der Gründung einer das Festival tragenden Stiftung und der Einbeziehung seiner ganzen Familie sowie Familienfremder in die Organisation die richtigen Weichen gestellt. So erwies sich dieses achtzehnte Festival im Den Haager Kongresszentrum mit einem der attraktivsten Programme seit Jahren und ausverkauftem Haus an allen drei Festivaltagen mit insgesamt 70000 Besuchern als das erfolgreichste aller Zeiten.

Paul Acket

Der Vater des Festivals wurde nicht nur durch eine Ausstellung über sein Leben und Wirken als Herausgeber von Musikzeitschriften und Produzent von Pop- und Jazz-Konzerten im Den Haager Gemeindemuseum geehrt, sondern auch posthum mit einem der alljährlich vergebenen Bird-Awards ausgezeichnet. Mehrere Musiker, insbesondere die von ihm entdeckten wie Rachelle Ferrell und Roy Hargrove, widmeten ihm ihre Auftritte. Der Bird-Award in der niederländischen Kategorie ging dieses Jahr an den Saxofonisten Hans Dulfer, in der internationalen Kategorie an Sonny Rollins. Daß mit Rollins erstmalig ein Preisträger nicht auf dem Festival auftrat, war der einzige größere Lapsus der Organisatoren.

Trumpets for Dizzy

Einen Abend lang war eine der zwölf Bühnen reserviert für eine sehr gelungene Homage an den Anfang des Jahres verstorbenen Dizzy Gillespie. Den Anfang machte Terence Blanchard mit seinem X Quintet, das zunehmend an Ausdruck gewinnt, ohne die Perfektion einzubüßen. Dann hatten das Wynton Marsalis Septet und das Roy Hargrove Quintet triumphale Auftritte, bevor Jon Faddis mit seinem holländischen Trio eher enttäuschte. Den Abschluß bestritt eine kleine All-Star Big Band, Slide Hampton & The Jazz Masters, zu der sich Blanchard, Hargrove und Faddis hinzugesellten. Hampton’s Arrangements von Gillespie Titeln wurden höchst engagiert und mitreißend dargeboten. Besonders positiv fielen auf Pianist Danilo Perez, Saxofonist David Sanchez und Trompeter Claudio Roditi.

Das Managen von ‚Entdeckungen‘

Als 1991 Paul Acket die völlig unbekannte Sängerin Rachelle Ferrell nach Den Haag holte und im Programmheft in den höchsten Tönen lobte, ließ sich eine große Zahl von Zuschauern zu ihrem ersten Auftritt locken und von ihrem kompromißlosen Jazz-Gesang verzaubern. Dies markierte den Start von Ferrell’s internationaler Karriere, die sie inzwischen leider in ziemlich ausdruckslose, wenn auch kommerziell erfolgreiche Pop-Gefilde geführt hat. Genau dieses Vorbild hatten in diesem Jahr offenbar Gabrielle Goodman und ihr Management vor Augen, als sie Goodman’s Auftritt in Den Haag generalstabsmäßig planten. Da gab es Wochen vorher für diese ebenfalls völlig unbekannte Sängerin eine internationale Presse-Konferenz in Den Haag, ihre erste CD wurde mit großen Anzeigen beworben, das Programmheft lobte sie in den höchsten Tönen. Und eine große Zahl von Zuschauern ließ sich locken, doch – die Verzauberung blieb aus!

Zu groß waren die Unterschiede: Goodman war keine scheu wirkende Ferrell, sondern trat eher wie ein erfahrener Show-Profi auf. Ihre Phrasierung war die meiste Zeit eher Soul- als Jazz-orientiert. Mit ihrer auffallenden Kleidung wirkten Goodman und ihr Saxofonist Gary Thomas wie Models einschlägiger Erotik-Magazine. Wohlgemerkt – all das muß im Show-Geschäft kein Nachteil sein, fördert aber nicht gerade das Entstehen eines jener seltenen hoch emotionalen magischen Momente der Entdeckung. So ist es dem Den Haager Publikum hoch anzurechnen, daß es nach anfänglicher Enttäuschung die Qualität von Goodman’s Gesang mit heftigem Applaus honorierte. Gary Thomas und das Trio boten soliden Background, Gitarrist Wolgang Muthspiel hingegen blieb musikalisch wie optisch ein Fremdkörper. Ob die Hinzufügung eines österreichischen weißen zu den fünf amerikanischen schwarzen Musikern auch eine Marketing-Idee war?

Altmeister

Den Haag bot wie immer die Möglichkeit, eine Reihe von verdienten Altmeistern des Jazz wiederzusehen, jenen Musikern im Rentenalter, von denen man genau weiß, was zu erwarten ist, und deren Tagesform jeweils darüber entscheidet, wieviel Melancholie sich in die Nostalgie mischt. Besonders viel Melancholie lösten Lionel Hampton und seine Golden Men of Jazz aus. Einzig Benny Golson mit einem schönen ‚I Remember Clifford‘ und Pianist Junior Mance ließen aufhorchen. Die übrigen Herren von Al Grey über Clark Terry bis hin zu Hampton selbst boten wenig, Harry Sweets Edison war nur ein Schatten seiner selbst.

Wesentlich lebhafter ging es bei Tito Puente und seinen Golden Men of Latin Jazz zu. TP hatte nicht nur eine exzellente Rhythm Section mit dem mitreißenden Pianisten Hilton Ruiz, Bassist Andy Gonzales und Schlagzeuger Ignacio Berroa dabei, sondern auch noch die Perkussionisten Mongo Santamaria und Giovanni Hidalgo. Damit entstand der richtige Rhythmusteppich fr die Bläser, Flötist Dave Valentin, dem immer besser werdenden Trompeter Charlie Sepulveda und Saxofonist James Moody, der das Ganze sichtlich anregend fand. Als dann noch Trompeter Arturo Sandoval als Überraschungsgast dazukam, kannte die Begeisterung des Publikums keine Grenzen mehr.

‚Der‘ Bebop Posaunist J.J. Johnson hatte sein festes amerikanisches Quintett nach Den Haag gebracht. Der junge Saxofonist Ralph Moore gehört schon seit vielen Jahren dazu. Die Rhythmusgruppe bestand aus Baß-Legende Rufus Reid, Schlagzeuger Billy Drummond und der jungen Pianistin Renee Rosnes (verheiratet mit Drummond), die ihrer Zierlichkeit zum Trotz einen sehr eigenen kräftigen und doch gleichzeitig lyrischen Sound entwickelt hat. Johnson selbst faszinierte mit seinem einzigartigen weichen Posaunenklang und einer Vielzahl von überzeugenden Soli.

Viel mehr Souveränität als Bassist Ray Brown kann ein Musiker kaum noch ausstrahlen. So bereitete nicht nur sein satter warmer Sound Vergnügen, sondern auch die Art, wie er mit freundlichen Handbewegungen seine Gruppe führte. Begeisterungsstürme löste der erst 30-jährige, aber doch schon überaus erfahrene Pianist Benny Green aus. Unterstützt von Brown und Schlagzeuger Jeff Hamilton swingte er wie wild, zeigte ausgeprägtes Blues-Feeling und stellte den keineswegs schlechten australischen Multi-Instrumentalisten James Morrison locker in den Schatten.

Pianist Hank Jones sind seine nunmehr 75 Lenze weder optisch noch musikalisch anzumerken. Begleitet von dem immer wieder mit kreativen Soli und seinem wunderbaren Sound glänzenden Bassisten Ray Drummond und dem heftig swingenden Schlagzeuger Alvin Queen bot Jones einen der ästhetisch ansprechendsten Sets des Festivals. Seine Anschlagkultur, seine geschmackvollen Interpretationen von Eigenkompositionen wie ‚The Interface‘ oder Standards wie ‚Green Dolphin Street‘ auf höchstem musikalischen Niveau demonstrierten, warum viele Pianisten von Oscar Peterson bis zu Andre Previn ihn als ihren Lieblingspianisten nennen.

Pianisten

Die Freunde des Jazz Piano-Spiels wurden nicht nur durch Hank Jones und Benny Green ber das Fehlen der zunächst angekündigten Oscar Peterson, Horace Silver und Tommy Flanagan hinweggetröstet. So bot etwa der Japaner Yosuke Yamashita vorzüglich begleitet von Bassist Cecil McBee und Schlagzeuger Pheeroan akLaff ein faszinierendes Spektrum von stark perkussivem bis zu gefühlvoll lyrischem Spiel. Ahmad Jamal hatte sicher nicht seinen besten Tag, aber auch an solchen Tagen ist er gut, auch wenn er sich noch mehr als üblich seiner Neigung zu diktatorischer Führung seiner Gruppe hingab. Gegenseitig inspirierend erwiesen sich McCoy Tyner und Vibraphonist Bobby Hutcherson. Mit energiegeladener Intensität zeigten sie sich begleitet von Schlagzeuger Aaron Scott und Bassist Avery Sharpe, der vor allem mit seinen E-Baß-Effekten auf dem akustischen Baß begeisterte, auf der Höhe ihrer Spielkunst.

Saxofonisten

Das Saxofon war nicht schlecht, wenn auch nicht so dominierend wie in den Vorjahren vertreten. Stanley Turrentine stellte seine amerikanische Band vor mit Gitarrist David Stryker, dem mitreißenden Pianisten Kei Akagi, Bassist Charles Farnbrough und Schlagzeuger Mark Johnson. Sie boten höchst vergnügliche Musik mit viel Swing, guten Soli und dem immer ein wenig nach Blues klingenden Sound des Leaders. Der Shooting Star dieses Jahres ist sicher Joshua Redman. Der junge Saxofonist hatte nicht nur ein sehr beachtliches Debutalbum vorgelegt, sondern auch live mit Pat Metheny begeistert. In Den Haag stellte er sich im Trio mit Pianist Geoff Keezer und Bassist Christian McBride vor, zwei weiteren vielversprechenden Nachwuchstalenten, die schon etwas länger auf der Szene sind. Keezers Stil steht in der Tradition Bill Evans und prägte den Sound der Gruppe. Redman hatte mehrere gute Soli, nahm sich aber sichtlich mehrfach zurck, um seinen Sound nicht zu erdig werden zu lassen. Insgesamt wirkte die Gruppe etwas verkrampft, aber es war wohl einer ihren ersten Auftritte. Kann also noch werden!

Wenn schon Sonny Rollins nicht in Den Haag sein konnte, so doch wenigstens David Murray. Der hatte zusammen mit den bestens aufgelegten Fred Hopkins am Baß und Andrew Cyrille am Schlagzeug einen grandiosen Auftritt. Seinem Sound war der Einfluß Rollins deutlich anzuhören, aber die Musik war von Ausnahmen abgesehen geprägt vom Free Jazz. Intensives Zusammenspiel, kreative Soli, dazwischen ein höchst gefühlvolles ‚Sentimental Mood‘, Ovationen fr David Murray.

Ausblick

Das Northsea Jazz Festival bot 1993 das attraktivste Programm seit langem, das angesichts von 12 parallelen Bhnen die meisten Besucher immer wieder in Entscheidungsschwierigkeiten brachte. Dies wurde belohnt mit drei ausverkauften Tagen und 70000 Besuchern, doch sind damit die Kapazitätsgrenzen endgltig erreicht. Wegen Überfüllung geschlossene Säle sorgten zu häufig für Enttäuschungen. Nachdem eine Ausdehnung des Festivals auf vier Tage schon vor Jahren probiert und gescheitert war, ist für die Zukunft wohl kontinuierliche Preiserhöhung zu erwarten. Diese Zukunft scheint immerhin über Ackets Tod hinaus gesichert zu sein: Der nächste Termin ist 8. bis 10.7.94.

Hans-Bernd Kittlaus