NSJF 2010

North Sea Jazz Festival 2010
Jazz vs. Fußball

pdf[1](erschienen 9/2010)

 

Es gab wohl keinen Menschen in den Niederlanden, der ähnlich unglücklich wie Jan Willem Luyken war, als das niederländische Fußball-Team das WM-Finale erreichte. Der Organisator hatte am zweiten Juli-Wochenende als Stammtermin für das North Sea Jazz Festival festgehalten, obwohl das mit dem WM-Endspiel kollidierte. Er powerte dagegen mit dem glanzvollsten Programm, das North Sea je hatte, sowie dem Einbau von Public Viewing ins Festival-Programm am Final-Sonntag. So erreichte er ein gut besuchtes Festival mit offiziell wie im Vorjahr 70.000 Besuchern und zwei ausverkauften von drei Tagen, auch wenn es gefühlt etwas weniger war.

Paul Acket Award

Der Paul Acket Award (früher Bird Award) ging in diesem Jahr an zwei sehr charismatische Musiker. Der junge Trompeter Christian Scott glänzte bei seinem Gastauftritt im Eröffnungskonzert mit dem Metropole Orchester ebenso wie bei seinen Interview Sessions und dem Konzert seines Quintetts. Quincy Jones, inzwischen 77, spielt nicht mehr Trompete, aber begeisterte im Interview mit Christian McBride durch seine Lebensfreude, Menschlichkeit und seine faszinierenden Geschichten aus über 60 Jahren in der Musikbranche von Ray Charles bis Sinatra, von seiner Big Band bis Michael Jackson. Jones ist noch immer sehr am Nachwuchs interessiert und empfahl dem Publikum die 16-jährige kanadische Sängerin Nikki Yanofsky sowie den 24-jährigen kubanischen Wunderpianisten Alfredo Rodriguez, dessen Konzert Jones selbst später ansagte. Rodriguez steht in der Tradition großer kubanischer Jazz-Musiker wie Chucho Valdez und Paquito d’Rivera. Er überzeugte im Trio mit dem exzellenten kubanischen Drummer Francisco Mela und dem bulgarischen (!) Bassisten Peter Slavov mit der Verbindung von stupender Technik und großer Musikalität. Nikki Yanofsky begeisterte mit sympathischer Ausstrahlung und einer für eine 16-jährige verblüffenden Bühnenpräsenz. Sie verfügt über eine gewaltige Stimme, die sie allerdings nicht immer geschmackssicher einsetzte. So wirkte Billie Holidays „God bless the child“ ziemlich unpassend. Trotzdem kann aus diesem Rohdiamanten noch viel werden.

Schwerpunkte

Mit der Wahl von Ornette Coleman als Artist-in-Residence zeigte North Sea wie schon im letzten Jahr mit John Zorn erneut Risikofreude, die vom Altmeister mit drei spannenden Konzerten belohnt wurde. Im ersten wurde Coleman vom Tenorsaxofonisten Joshua Redman recht ehrfurchtsvoll, aber gut begleitet. Redman trat damit in die Fußstapfen seines verstorbenen Vaters Dewey, der oft mit Coleman gearbeitet hatte. Am Ende des Sets kam Bassist Charlie Haden dazu und erinnerte an seine Zusammenarbeit mit Coleman vor über 50 Jahren. Das zweite Konzert zeigte Coleman mit seinem üblichen mit zwei Bassisten besetzten Quartett, bevor er im letzten Konzert mit Gitarrist James Blood Ulmer einen kongenialen Mitstreiter hatte, wobei die marokkanische Jajouka-Gruppe eher als Fremdkörper wirkte. Höchst interessante Gruppen enthielt die zweitägige Schiene „Global Brooklyn, NY“, die die spannende Jazz-Szene Brooklyns beleuchtete. Das Quintett Tiny Resistors des Bassisten Todd Sickafoose brachte Modern Jazz, bei dem vor allem John Ellis an Tenorsaxofon und Bassklarinette mit seinem wunderbaren Sound begeisterte. Der gebürtige Brite John Escreet spielte fulminant Klavier mit Anklängen an McCoy Tyner, angetrieben von Drummer Nasheet Waits und unterlegt von elektronischen Klängen David Binneys an Keyboard und Saxofon. Der Auftritt des in New York vielgepriesenen Steve Lehman Octet litt ein wenig unter einem kräftigen Gewitter, das dem schwülen Rotterdam keine nachhaltige Abkühlung brachte. Musikalisch erwiesen sich die Arrangements des Oktetts als höchst abwechslungsreich und lohnend, auch die solistischen Leistungen etwa von Tenorsaxofonist Mark Shim oder Leader Steve Lehman am Altsaxofon hätten mehr Zuhörer verdient. Ein Höhepunkt war der Auftritt des Arrangeurs Darcy James Argue, der im Vorjahr in Moers mit seiner New Yorker Big Band begeistert hatte und in Rotterdam mit dem Cologne Contemporary Jazz Orchestra auftrat. Die Kölner Band erwies sich als ebenbürtig und setzte die anspruchsvollen Arrangements Argues mitreißend um. Der Jazz-Gesang war sehr stark vertreten. Wo kann man sonst innerhalb von drei Tagen Dianne Reeves, Diana Krall, Dee Dee Bridgewater, Roberta Gambarini und Kurt Elling live erleben? Grammy-Gewinner Elling erntete mit seinen wagemutigen Improvisationen ebenso Ovationen wie Dee Dee Bridgewater, die sich in bester Verfassung zeigte. Sie brachte ihr Billie Holiday Programm mit einer exzellenten Band, in der besonders James Carter hervorstach, der sich wilde Saxofon-Duelle mit Craig Handy lieferte. José James enttäuschte hingegen mit seinem Coltrane Projekt, das unter einem zweitklassigen Coltrane-Kopierer am Saxofon, schlechtem Sound und unausgereiften Arrangements litt. Ein weiteres gesangliches Highlight setzte Catherine Russell, die Songs von Armstrong bis Waller im New Orleans-Stil mit großer Authentizität sang.

Stars

Im Bereich des klassischen Jazz gab es viele weitere Höhepunkte. Vibraphonist Bobby Hutcherson schwelgte mit Cedar Waltons Trio in Rhythmus und Melodie. Pianist Kenny Barron demonstrierte harmonische Meisterschaft im Quartett mit dem vielseitigen Saxofonisten David Sanchez. Bassist Ron Carter bot Kammermusik in ihrer schönsten Form im Trio mit Pianist Mulgrew Miller und Gitarrist Russell Malone. Pianist Chick Corea faszinierte mit der unbändigen Spielfreude seiner Freedom Star Band mit Kenny Garrett, Chrstian McBride und dem alterslosen Schlagzeuger Roy Haynes. Saxofonist Odean Pope zelebrierte das Programm seiner exzellenten CD „Odean’s List“ in All Star Besetzung u.a. mit James Carter, Eddie Henderson und dem mächtig antreibenden Jeff Tain Watts. Vijay Iyer zeigte den State-of-the-Art des modernen Klaviertrios. Sonny Rollins feierte seinen bevorstehenden achtzigsten Geburtstag mit seinem neubesetzten Quintett mit Gitarrist Peter Bernstein in gewohnter Manier, indem er sein 1,5-Stunden Konzert erstmal mit einem 20-minütigen Solo begann, das zu keinem Zeitpunkt langweilig wurde. Joshua Redman ließ sich von seinem Double Trio zu solistischen Höhenflügen antreiben, bevor Chris Potter zu einem faszinierenden Finale dazu stieß. Da trat der weltmusikalisch-unbefriedigende Auftritt zum 70-sten Geburtstag von Herbie Hancock schnell in den Hintergrund.

Auch auf der Pop-Schiene brachte North Sea ein unglaubliches Arsenal von Stars, das von Norah Jones bis Earth, Wind & Fire, von Al Green bis Macy Gray und von Katie Melua bis Joss Stone reichte. Am Ende wurden die Niederländer für die WM-Final-Niederlage von Stevie Wonder getröstet, der ein zweistündiges hit-geladenes Konzert bot und zum Schluss Quincy Jones zu sich auf die Bühne bat. Zwei Legenden, die die Geschichte der populären Musik der letzten 50 Jahre entscheidend geprägt haben, beendeten ein denkwürdiges Festival. Jan Willem Luyken hatte mit seinem stargesättigten Programm Erfolg gegen Fußball-WM und heiße Temperaturen an, aber finanziell dürfte sich das kaum gerechnet haben. Wie kann es in Rotterdam weitergehen? Mehr Stars geht nicht, aber vielleicht mehr Komfort (z.B. Klimatisierung), mehr interessante thematische Schienen, die durchaus auch mal Mainstream Jazz beinhalten dürfen, und etwas weniger Kommerz. Die nächste Ausgabe ist geplant vom 8. bis 10. Juli 2011.

Hans-Bernd Kittlaus