North Sea Jazz Festival 2005
Abschied von Den Haag
Das North Sea Jazz Festival verabschiedete sich in seiner total ausverkauften dreißigsten Ausgabe von Den Haag mit einem großen Fest, das mit Einzelkonzerten von Ibrahim Ferrer und dem Keith Jarrett Trio eingeleitet wurde und mit einer fulminanten Jam Session endete. 70.000 Besucher erlebten ein breites Programm mit Pop, Blues und Soul von George Duke, Candy Dulfer und Joss Stone bis Chaka Khan, Solomon Burke und Al Green, aber auch der Jazz war mit Superstars wir Herbie Hancock, Chick Corea und Oscar Peterson vertreten. Die Organisatoren haben sich gut auf das spannende Experiment vorbereitet, das Festival 2006 nach Rotterdam zu verlagern.
Etablierte Meister
Der diesjährige Artist-in-residence Dave Holland demonstrierte in drei verschiedenen Formationen sein gruppendienliches Bassspiel, seine solistische Virtuosität und seine Qualitäten als Leader, Komponist und Arrangeur. Ihrem glänzenden Ruf wurde seine hochkarätig besetzte Big Band gerecht, die unter anderem Stücke aus seiner ‚Monterey Suite’ spielte und aus der Saxofonist Antonio Hart und Drummer Nate Smith herausragten. Pianist Andrew Hill brachte ebenfalls seine Big Band nach Den Haag, die aber nicht optimal eingespielt wirkte. Don Byron wandelte mit Klarinette und Tenorsaxofon auf den Spuren Lester Youngs. Dabei swingte sein Ivey-Divey-Quartett mit Pianist George Colligan, Bassist Lonnie Plaxico und Schlagzeuger Billy Hart heftig und bewegte sich näher am Vorbild, d.h. an den Aufnahmen Lester Youngs mit Nat King Cole und Buddy Rich, als die deutlich abstrakter gehaltene CD, die Byron im letzten Jahr mit Jason Moran und Jack DeJohnette eingespielt hatte. Akkordionist Richard Galliano erntete mit seinem Trio mit Bassist Scott Colley und Schlagzeuger Clarence Penn stehende Ovationen für temperamentvolle Interpretationen von Standards und Eigenkompositionen. Pianist McCoy Tyner begeisterte im Quintett mit Bassist Charnett Moffett und dem wenig bekannten, aber exzellenten Schlagzeuger Eric Gravatt. Ravi Coltrane blieb dabei blass gegen seinen Saxofon-Kollegen Gary Bartz, dessen überschäumende Spielfreude und Ausdrucksstärke seine skurrile „Tante Käthe“-Frisur vergessen ließ. Drummer Roy Haynes feierte im März seinen 80-sten Geburtstag, doch davon merkte man beim Auftritt seines Quartetts nichts. Dynamisch trieb er seine jungen Mitspieler an, die sich auf inspirierte melodische Improvisation ohne jegliche Gimmicks konzentrierten. Pianist Martin Bejerano hatte einige gute solistische Momente, imposant war Marcus Strickland an den Saxofonen, vor allem am schwierigen Sopran.
Spiritualität hat im Jazz immer eine besondere Rolle gespielt. Tenorsaxofonist Archie Shepp ließ den „Spirit“ wach werden bei seinem Auftritt mit seinen alten Weggefährten Posaunist Roswell Rudd und Drummer Andrew Cyrille. War ihre Musik in den 60er Jahren dem Free Jazz zuzurechnen, so bewegten sie sich jetzt im Mainstream. Rudd, der nach langer Pause vor einigen Jahren in die Jazz-Szene zurückkehrte, bestach durch seinen schönen Posaunenklang, den Shepp am Klavier begleitete. Ein anderer „Spirit Seeker“ war und ist der Pianist Randy Weston. Sein Quintett mit Saxofonist Talib Kibwe, Posaunist Benny Powell, Bassist Alex Blake und Perkussionist Neil Clarke kam zunächst langsam in Schwung, aber dann führten Kompositionen wie ‚Blue Moses’ und ‚The Healers’ den Spirit in den Saal. Ein weiterer Auftritt des Quintetts gemeinsam mit Sänger Bobby McFerrin zeigte die Improvisationskunst McFerrins, der als sechster Musiker zu den Quintett-Arrangements sang.
Kein anderes Jazz-Instrument wird seit Jahrzehnten so eindeutig von einem Mann beherrscht wie die Mundharmonika durch Toots Thielemans. Der 83-jährige wurde in Den Haag mit einer aufwändig produzierten Show gefeiert, die als Tribut an Harold Arlen konzipiert war und wahrscheinlich als DVD veröffentlicht werden wird. Begleitet wurde Thielemans von seinem langjährigen Pianisten Kenny Werner, Ray Drummond am Baß und Jeff Hamilton am Schlagzeug sowie einem großen Streichorchester. Hier stimmte alles. Thielemans war ausgelassener Stimmung und bester Spiellaune, und illustre junge Gäste sorgten für Highlights. So zelebrierte Roberta Gambarini einige Standards mit Toots, Lizz Wright sang mit ihrer warmen Altstimme ein jazziges ‚Come Rain or Come Shine’ und Jamie Cullum überwand seine anfängliche Nervosität schnell und erntete viel Applaus mit ‚One for My Baby’.
Neue Gesichter
Toots Thielemans’ Gäste sorgten auch mit ihren eigenen Sets für Höhepunkte. Roberta Gambarini nahm Ray Drummond spontan gleich mit in ihr Trio und sang unter anderem ein wunderschönes ‚Estate’. Sie hat sich zu einer ernsthaften Interpretin des American Songbook entwickelt und dürfte mit ihrer ersten CD unter eigenem Namen ‚Easy to Love’ jetzt auch einem größeren Publikum bekannt werden. Lizz Wright bewegte sich in Den Haag im Grenzbereich zwischen Pop, Soul, Gospel, Country und Jazz, doch ihre ausdrucksstarke schöne Stimme macht die Einordnung in eine Schublade zweitrangig (da hat sie etwas mit Ray Charles und Nina Simone gemeinsam). Jamie Cullum hat sich seit seinem Major Label Debut vor nur eineinhalb Jahren zum Superstar katapultiert, der in Den Haag mit seinen Entertainer-Qualitäten mühelos 9.000 Zuschauer in seinen Bann zog. Der erst 21-jährige Sänger und Pianist Peter Cincotti enttäuschte hingegen bei seinem Auftritt. Das lag zum einen an seinem neuen Schlagzeuger, der zu gleichförmig rockig durchtrommelte, zum anderen aber auch an Cincottis neuen Eigenkompositionen, die zu einseitig in die Kategorie Easy Listening gehörten.
Überraschend großen Zuschauerzuspruch genoss die Flamenco Jazz Schiene. Die Verschmelzung von Jazz und Flamenco hat in den letzten 10 Jahren erhebliche Popularität in Spanien gewonnen und ist stark mit dem Namen des andalusischen Pianisten Chano Dominguez verbunden, der ein mitreißendes Konzert in Den Haag gab. Er schafft es, typische Flamenco-Elemente in einen stringenten Jazz-Kontext einzubetten, ohne in weltmusikalische Beliebigkeit abzurutschen. Angetrieben vom versierten Schlagzeuger Marc Miralta bot Dominguez’ Quintett spannende Musik, wobei Blas Cordoba ‚Kejio’ mit seinen ausdrucksstarken Gesangseinlagen überzeugte. Ein ähnliches Konzept verfolgte auch der amerikanische Trompeter und Perkussionist Jerry Gonzalez, der seit einigen Jahren in Spanien lebt, mit seiner Gruppe Los Piratas del Flamenco, wobei durch den akustischen Gitarristen Nino Josele und den Gesang von Guadiana der Flamenco stärker im Vordergrund stand. Eine ganz andere Synthese, nämlich von Jazz mit Elementen indischer Musik, betreiben der Pianist Vijay Iyer und sein musikalisches Alter Ego, der Saxofonist Rudresh Mahanthappa. Ihr Quartett mit Bassist Stephan Crump und dem hochtalentierten erst 18-jährigen Urenkel von Roy Haynes, Marcus Gilmore, am Schlagzeug bestach durch sein dichtes Zusammenspiel. Auch hier keine Weltmusik, sondern Jazz mit überraschenden neuen Elementen.
Abschied und Neuanfang
Jam Sessions können begeisternde temperamentvolle Veranstaltungen sein oder auch völlige Katastrophen. Die diesjährigen Jam Sessions in Den Haag boten beides. Zum 30-jährigen Jubiläum hatten die Organisatoren die Idee, alle verfügbaren Träger des seit vielen Jahren vergebenen Bird Awards in einer Session zusammenzubringen. Das funktionierte überhaupt nicht. Der legendäre Bebop-Pianist Barry Harris fand keinen Draht zu Joe Zawinul an den Synthesizern, Toots Thielemans verstand sich im Austausch von Witzen mit Gitarrist John Scofield besser als im Musikalischen. Nur Bassist Christian McBride konnte solistisch überzeugen, bevor im zweiten Teil der Session die niederländischen Teilnehmer nahezu unter sich waren und Tenorsaxofonist Piet Noordijk und Sängerin Greetje Kauffeld der Session einen versöhnlichen Abschluss gaben. Der Bird Award ging in diesem Jahr an den New Yorker Bassisten Ben Allison und an Jos Acket, die Witwe des Festival-Gründers Paul Acket, die sich selbst um die Organisation des Festivals verdient gemacht hat. Wesentlich gelungener war die zweite Jam Session, mit der sich North Sea am letzten Abend von Den Haag verabschiedete. Angetrieben von der exzellenten Rhythm Section mit Pianist Ronnie Mathews, Bassist Ray Drummond und Schlagzeuger Jimmy Cobb huldigte eine nicht endende Schar von Bläsern Charlie Parker zu dessen 50-stem Todestag. Dabei ragten der allgegenwärtige Roy Hargrove an der Trompete, Gary Bartz und Jesse Davis am Altsaxofon und Benny Golson am Tenor heraus.
Das nächste North Sea Jazz Festival wird vom 14. bis 16. Juli 2006 im Veranstaltungszentrum Ahoi in Rotterdam stattfinden. Der Umzug ist zum Leidwesen der Den Haager Tourismusbranche notwendig geworden, weil Teile des Den Haager Kongresszentrums abgerissen werden sollen, wodurch es für das Festival zu klein wird. Die Organisatoren sind sich der Risken eines solchen Ortswechsels bewusst und machten bereits intensiv Werbung für das nächste Jahr. Auch in Rotterdam soll es 14 Bühnen geben, für die die Namen der Bühnen aus Den Haag übernommen werden, damit die Besucher ein Gefühl der Vertrautheit mitnehmen. Schon jetzt kann das bewährte 3-Tage-Paket bestehend aus Eintrittskarte und Hotelübernachtungen gebucht werden (www.northseajazzhotels.com). Auch die Den Haager Hoteliers setzen darauf, dass die Besucher an Bewährtem festhalten wollen, und bieten Unterkünfte in Den Haag mit kostenlosem Shuttle-Bus nach Rotterdam an, was allerdings 40 Minuten Fahrtzeit pro Strecke bedeutet. Besuchern ist auf jeden Fall Vorausbuchung zu empfehlen, nachdem das Festival in diesem Jahr frühzeitig ausverkauft war und gefälschte Tickets auf dem Schwarzmarkt verkauft wurden. Neben den Risiken eröffnet der Umzug aber auch Chancen. Das Ahoi bietet Platz für einen weiteren Ausbau des Festivals und führt so hoffentlich wieder zu einem etwas entspannteren Ablauf, bei dem die Zuschauer nicht ständig befürchten müssen, wegen Überfüllung nicht in die Säle hineinzukommen oder wegen „Verkehrsstaus“ in den Gängen hängenzubleiben.
Hans-Bernd Kittlaus