North Sea Jazz Festival 1995
Das 20. North Sea Jazz Festival
Neuer Zuschauerrekord (71000), mehr Bühnen denn je (14) und viele glückliche Gesichter über ein überaus gelungenes Programm – die zwanzigste Ausgabe des Den Haager North Sea Jazz Festivals geriet zum Triumph für das Team mit Paul Dankmeijer an der Spitze, das nach dem Ausscheiden der Familie des Festivalgründers Paul Acket die Organisation des Mammutereignisses übernommen hatte. Das Erfolgsrezept lag im Festhalten an Bewährtem bei gleichzeitigem konsequentem Umsetzen von punktuellen Veränderungen. So erreichte man, daß die zur Finanzierung notwendigen Zuschauermassen durch ein attraktives Funk/ Soul/Pop-Programm (u.a. James Brown, Chuck Berry, George Clinton, Guru, Jazz Passengers, Neneh Cherry, Youssou N’Dour, Dr. John, Neville Brothers, Van Morrison, Bootsy Collins) weitgehend in den zwei größten der 14 Säle blieben und es nicht zum Verkehrsinfarkt auf den Gängen des Den Haager Kongreßzentrums kam. Diese finanzielle Basis wurde genutzt, um ein ausgezeichnetes Jazz-Programm zu bieten.
Neue Gesichter
Eine Veränderung bestand in der offensichtlich wesentlich engeren Zusammenarbeit der Festival-Organisatoren mit den führenden CD-Labels. Die schickten in großer Zahl ihre heftig beworbenen Neuentdeckungen nach Den Haag und boten so den Besuchern vielerlei Chancen, ihrerseits Neuentdeckungen zu machen. Gleich zu Beginn wurde der Auftritt des jungen Saxofonisten Teodross Avery zu einer Sternstunde des Festivals. Avery gebietet bereits über die gesamte Ausdruckspalette des Saxofonspiels, spielt Eigenkompositionen ebenso wie Standards. Pianist Charles Craig, dessen Spielwitz an Fats Waller erinnert, Bassist Ron Mahdi und Schlagzeuger John Lamkin steigerten sich mit Avery in einen Spielrausch, der nicht nur das Publikum, sondern auch die Musiker selbst begeisterte. Kollektive Improvisation, wie man sie nur selten hört!
James Carter begeisterte das Publikum mit seinem mächtigen Sound vor allem auf dem Tenorsaxofon. Sein Repertoire von technischen Möglichkeiten ist gewaltig und manchmal wünschte man sich, er würde diese etwas besser dosiert einsetzen, doch die überschäumende Energie der Gruppe mit Pianist Craig Taborn, Bassist Jaribu Shahid und Drummer Tani Tabbal riß die Zuhörer immer wieder mit.
Natürlich waren mit manchen neuen Gesichtern auch Enttäuschungen verbunden. Sänger Kurt Elling klang wie eine schlechte Kopie von Mark Murphy und schien etwas verloren auf der großen Bühne. Sängerin Jackie Allen wurde die Gnade einer kleineren intimen Bühne zuteil, wo sie dann wie eine ebenso schlechte Kopie von Michelle Pfeiffer (in ‘The Fabulous Baker Boys’) wirkte.
Die gleiche intime Bühne, nämlich das neue Spiegelzelt, war der Ort eines weiteren Festival- Höhepunkts. Der Sänger Kevin Mahogany erwies sich als neue Hoffnung einer vom Aussterben bedrohten Domäne, des männlichen Jazz Gesangs. Sein Bariton klang weich und einfühlsam in Balladen wie ‘Foolish Heart’, hart swingend und scattend in Uptempo Titeln wie ‘Route 66’ und sonor wie Joe Williams, wenn er den Blues anstimmte. Aus dem Begleittrio ragte Pianist James Weidman hervor, der höchst gefühlvoll auf den Spuren Tommy Flanagans wandelte. Diese Session hätte ein wesentlich größeres Publikum verdient, das sich Mahogany dann am nächsten Tag durch sein unangekündigtes Einsteigen bei Mulgrew Miller und Jesse Davis verschaffte. Es bedarf keiner besonderen prophetischen Gabe, diesem Sänger eine große Zukunft vorauszusagen. Mahogany hat das Feeling, jeder Ton war Jazz pur.
Diana Krall spielte das Klavier mit der gleichen bluesig kargen Bestimmtheit, mit der sie auch sang. Da wirkten die exzellenten Begleiter, Bassist Christian McBride und Schagzeuger Lewis Nash, schon fast zu virtuos. Benny Carters ‘Only Trust Your Heart’ wurde von Krall auf ein erträgliches Maß an Sentimentalität zurechtgestutzt, ‘I love being here with you’ swingte angenehm. Diana Krall hat keine große, aber eine ausdrucksstarke Stimme und ist damit eine willkommene Bereicherung in der Kategorie Jazz-Gesang.
Bekannte Gesichter
Christian McBride agierte dieses Jahr als ‘der’ Festivalbassist und war an allen drei Tagen nahezu non-stop mit der gewohnten Zuverlässigkeit und Virtuosität im Einsatz. Sein schwächster Auftritt war überraschenderweise der als Leader: Seine Mitstreiter, Saxofonist Tim Warfield, Pianist Anthony Wonsee und Drummer Karriem Riggins, blieben einfach zu blaß und schafften somit nicht den richtigen Rahmen für McBride. Sein Ansatz, in die Rolle des Entertainers zu schlüpfen, scheiterte an den Limitationen, die sein Instrument einem Solisten setzt. Doch McBride wird sich sicher weiter an seinem Idol James Brown orientieren. Vielleicht erleben wir ihn demnächst als Sänger.
Der Baß war sehr stark vertreten. Niels Henning Oersted Pedersen brillierte mit Oscar Peterson, Ray Brown kam mit seinem eigenen Trio. Sein Sound ist nachwievor ein Genuß, doch das Trio harmonierte noch nicht richtig, nachdem der junge hochtalentierte Schlagzeuger Gregory Hutchinson, bekannt aus seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Roy Hargrove, Jeff Hamilton ersetzt hatte. Pianist Benny Green hatte ausgiebig Gelegenheit, seine weiter wachsende solistische Reife unter Beweis zu stellen.
Keine Harmonie-Probleme hatten Charlie Haden und sein Quartet West mit Pianist Alan Broadbent, Drummer Larance Marable und Tenorsaxofonist Ernie Watts, die in dieser Besetzung schon seit fast 10 Jahren zusammenspielen. Ermüdungserscheinungen waren dabei überhaupt nicht zu erkennen. In Den Haag präsentierten sich die vier frisch und mit wundervoller Musik im Stile ihrer erfolgreichen CDs.
Joe Henderson konnte mit seinem ‘Double Rainbow’ Quintet leider nicht an seine gleichnamige großartige CD anknüpfen. Die Gruppe brasilianischer Musiker mit dem renommierten Gitarristen Oscar Castro-Neves spielte solide swingende Musik, doch die für die Lieder von Antonio Carlos Jobim so wichtige Leichtigkeit wollte sich nicht einstellen. So blieb denn ein unbegleitetes Solo Hendersons über ‘Lush Life’ der Höhepunkt des Sets.
Saxofonist David Murray brachte in diesem Jahr seine Big Band unter Leitung von Butch Morris nach Den Haag. Morris verfolgte ein Big Band Konzept, das nicht die üblichen Bläsersätze, sondern Sound Cluster in den Vordergrund stellte. Darüber bliesen dann exzellente Solisten wie Baritonsaxofonist Hamiett Bluiett, Posaunist Craig Harris und natürlich Murray selbst ihre Solos. Das Publikum auf der wieder als Bühnenstandort eingeführten Dachterrasse des Kongreßzentrums war hellauf begeistert von dieser ausdrucksstarken Form schwarzer amerikanischer Avantgarde, wie sie im Zeitalter des Funk nur noch selten zu hören ist.
Einen besonderen Genuß bot das Traumquartett mit dem 88-jährigen Altsaxofonisten Benny Carter, Pianist Tommy Flanagan, Bassist Buster Williams und Schlagzeuger Lewis Nash. Die Musiker aus 3 Generationen zelebrierten Standards auf geradezu schmerzhaft schöne Weise. Carters Sound klang noch immer voll und kräftig, Flanagan war einmal mehr der ästhetisch perfekte Begleiter. Das Publikum erwies den Meistern Referenz mit stehenden Ovationen.
Bird Award
Der zum elften Mal verliehene Bird Award ging dieses Jahr in der Kategorie Niederlande an den Avantgarde Cellisten Ernst Reijseger, in der Kategorie ‘Besondere Anerkennung’ an den belgischen Harmonika-Spieler Jean Toots Thielemans, der ihn aus den Händen von Chan Parker, der Witwe Charlie ‘Bird’ Parkers, entgegennehmen durfte. Den internationalen Bird erhielt Lionel Hampton, der nach seinem kürzlichen Schlaganfall nicht nach Den Haag kommen konnte. Überhaupt gab es zu dem im Mai verschickten vorläufigen Festivalprogramm weit überdurchschnittlich viele Absagen, die vielfach Enttäuschungen auslösten. Beispiele waren Hank Jones, Dorothy Donegan, Gil Scott-Heron, Bela Fleck oder Barbara Dennerlein.
Pianisten
Altmeister Oscar Peterson war sein Schlaganfall vor drei Jahren zwar auf dem Weg über die Bühne zum Klavier anzumerken, aber nicht in seinem Spiel. Das swingte so vergnüglich wie in früheren Jahren. George Shearing machte die Wiederauferstehung seines Quintett-Sounds der 50er Jahre sichtlich Spaß, und das Publikum genoß die nostalgische Rückbesinnung auf hohem musikalischen Niveau. Doch die Höhepunkte pianistischen Wohlklangs boten zwei Trios. Tommy Flanagan zeigte mit Bassist Peter Washington und Dummer Lewis Nash, daß er nicht nur als Begleiter, sondern auch als Solist zu verzaubern vermochte. Dabei war Nash vor allem mit seiner subtilen Besenarbeit herausragend. In einem anderen Set demonstrierte Kenny Barron höchste Anschlagkultur und musikalische Kreativität sowohl in Balladen wie ‘The Very Thought of You’ wie auch in schnellen Titeln wie ‘Love for Sale’. Mit Bassist Ray Drummond und Drummer Ben Riley hatte er bewährte New Yorker Mitstreiter an seiner Seite.
SängerInnen
Der Jazz-Gesang war in diesem Jahr zahlenmäßig deutlich stärker vertreten als in den Vorjahren, nicht nur durch die schon genannten Newcomers, sondern auch durch etablierte Stars, zum Beispiel durch das Phänomen Tony Bennett. Der 69-jährige Altmeister klang nicht nur besser denn je, er genoß auch sichtlich seine alle Generationen überschreitende Popularität. Dabei machte er eine kompromißlos altmodische Musik auf den Spuren Frank Sinatras, d.h. amerikanische Standards nur mit Begleitung des Klaviertrios unter Pianist Ralph Sharon, der schon seit 35 Jahren in seinen Diensten steht. Warum dies plötzlich selbst bei der Jugend so populär ist (‘MTV Unplugged’), bleibt gänzlich unerklärlich. Sollte sich zeitlose Qualität doch auszahlen? In Den Haag jedenfalls faszinierte Bennett die Zuhörer mit der Schönheit seiner Musik. Besonders als Geiger Johnny Frigo als Überraschungsgast Bennett bei ‘Smile’ begleitete, konnte man trotz der über 2000 Menschen im Saal die berühmte Stecknadel fallen hören.
Dee Dee Bridgewater kam nach Den Haag mit dem Programm ihrer neuesten CD ‘Love and Peace’ mit Kompositionen von Horace Silver, die er für seine Instrumentalgruppe geschrieben hatte. Miss Bridgewater singt zwar Texte, aber überwiegend zu Bläserlinien. Das macht den Sound dann häufig etwas schrill, was auf der CD gelegentlich nervig wirkt.
Beim Live-Auftritt in Den Haag kam dieses Gefühl nicht auf. Ihre starke Bühnenpräsenz und mitreißende Energie hielten das Publikum in Bann. Spätestens nach den Schlußtiteln ‘The Jody Grinds’ und ‘Blowin’ the Blues Away’ kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr.
Die Sängerin Laura Fygi genießt offenbar große Popularität in den Niederlanden. Ihre Sets in Den Haag waren jedenfalls überfüllt. Sie sang überwiegend Standards im Stil der coolen Stan Kenton Sängerinnen mit einer überzeugenden Begleitband, in der insbesondere der Saxofonist Jan Menu positiv auffiel.
Dianne Reeves hat sich endgültig als große Jazz-Diva etabliert. Exzellent begleitet von ihrer Band unter Pianist und Arrangeur David Torkanowsky interpretierte sie auf fesselnde Art und Weise Titel wie ‘Afro Blue’, ‘Softly as in a Morning Sunrise’ und ‘Both Sides Now’. Sie hat ihren eigenen Stil entwickelt, wobei ungewöhnlich ist, wie sie ihre Phrasierung dem jeweiligen Song anpaßt, d.h. bei Jazz-Titeln ist sie jazzig, bei Pop-Titeln poppig, aber immer unverkennbar Dianne Reeves. Allmählich schließen sich die Lücken, die der Tod von Sarah Vaughan und Carmen McRae gerissen hat.
Ausblick
Ein gelungeneres Jubiläumsfestival hätte sich das North Sea Organisationsteam nicht wünschen können. Alle drei Festivaltage waren schon Tage vor dem Festival ausverkauft, was erstmalig zu einem Schwarzmarkt vor dem Haager Kongreßzentrum führte. Das Programm war eines der besten der 20-jährigen Festival-Geschichte gespickt mit einer Vielzahl musikalischer Höhepunkte. Damit ist aber auch die Latte für die nächsten Jahre sehr hoch gelegt. Was könnte man noch verbessern? Vielleicht sollte das unangekündigte Einsteigen von Musikern bei Sets anderer aktiver gefördert werden, zu dem in Den Haag angesichts der großen Zahl von anwesenden Musikern im Prinzip reichlich Gelegenheit besteht und das beim Publikum im allgemeinen gut ankommt. Auch könnten die TV-Monitore noch besser genutzt werden, um regelmäßig einen Überblick über die (i.a. geringen) Verspätungen in den verschiedenen Sälen zu geben. Doch das sind Kleinigkeiten im Verhältnis zu einer ansonsten nahezu perfekten Mammutorganisation. Der nächste Termin steht schon fest: 12. – 14. Juli 1996. Informationen über das Festival sind übrigens jetzt auch online im Internet abrufbar unter ‘http://www.netcetera.nl/jazzfacts.html’ als North Sea Jazz ‘95 Virtual Report. Hier sollen im Anschluß an das diesjährige Festival Kritiken und Eindrücke teilnehmender Musiker zu finden sein und im nächsten Jahr dann frühzeitig das neue Programm.
Hans-Bernd Kittlaus