NSJF 2003

North Sea Jazz Festival 2003
North Sea Jazz mit vielen Premieren

pdf[1](erschienen 9/2003)

 

Die Wirtschaftskrise in Verbindung mit einer zeitlich unausgewogenen Programmplanung führten in Den Haag zu einem Rückgang der Besucherzahl um etwa 5 % auf 67000. Dabei war das Programm mit zugkräftigen Stars von Steve Winwood, The Roots und Soul-Legende Solomon Burke bis zu Bonnie Raitt, Van Morrison und Ibrahim Ferrer durchaus geeignet, die Massen anzusprechen, doch der Samstag erwies sich als zu stark im Verhältnis zu den beiden anderen Festivaltagen. Im Jazz-Bereich bot North Sea neben Bewährtem selten so viele interessante Premieren wie in diesem Jahr.

Bird Award

Der Bird Award ging in der Kategorie „Musiker, der größere Aufmerksamkeit verdient“ an den spanischen Saxofonisten Perico Sambeat, der allerdings die Ehrung bei seinem Auftritt mit dem Quintett von Ramon Valle nicht rechtfertigen konnte. Die Wahl des völlig unbekannten Sambeat zeigt eine gewisse Orientierungslosigkeit, die sich schon in der unangebrachten Nominierung des Saxofonisten Chris Potter ausgedrückt hatte, der nach einer Vielzahl von CDs unter eigenem Namen und dem Jazz Par Preis nun wirklich nicht in diese Kategorie passte. Mit solchen nicht nachvollziehbaren Entscheidungen wird der eigentlich gute Ansatz des Bird Awards fahrlässig abgewertet. Mit dem Bird Special Appreciation Award wurde der Gitarrist Pat Metheny ausgezeichnet, der dieses Jahr Artist in Residence des Festivals war und an den drei Festivaltagen in sechs verschiedenen Formationen seine Vielseitigkeit beweisen konnte. Ein zweiter Appreciation Award ging posthum an den kürzlich verstorbenen niederländischen Pianisten Rob Madna.

Jazz Gesang

Altmeister Tony Bennett eröffnete das Festival auf gewohnt überzeugende Weise. Auch mit 76 verfügt er noch über eine kräftige sichere Stimme. Sein gut eingespieltes Quartett, aus dem vor allem der Schlagzeuger Clayton Cameron herausstach, sorgte für dezenten Swing bei Titeln wie Charlie Chaplins ‚Smile’ oder Jule Stynes ‚Just in Time’. Nach dem Tod von Sinatra und Mel Torme ist Bennett der letzte der Mohikaner. Es gehört zu den eigenartigen Phänomenen des Musik-Business, dass Bennett mit seiner herrlich altmodischen gefühlvollen Darbietung des Great American Song Book selbst bei der MTV-Generation großen Erfolg hat, aber kaum Nachfolger in Sicht sind. Einer, der es zumindest versucht, ist der begabte Sänger und Pianist Peter Cincotti, der mit erst 19 Jahren sein Debut in Den Haag gab und durchaus Potential zeigte. Die All Star Gruppe Four Brothers mit Initiator Kurt Elling, Kevin Mahogany, Mark Murphy und Jon Hendricks hat sich dem Vocalese verschrieben, also dem Singen von Instrumentalversionen bekannter Jazz-Titel. Hendricks, mit 82 der Senior der Truppe, konnte mit seinen Erzählungen aus der Jazz-Geschichte mehr faszinieren als mit seiner schwachen Gesangsstimme. Murphy, auch schon 70 und dabei sehr vital, überzeugte mit seinem unverwechselbaren Gesangsstil ebenso wie Mahogany, dessen kraftvolle Baritonstimme allerdings durch das Vocalese Konzept zu sehr eingeschränkt wurde. Elling war in seinem Element und lieferte mit der Zawinul Komposition ‚Time to Say Goodbye’ in einer Version von Wayne Shorter den besten Beitrag des Sets.

Die Kanadierin Molly Johnson nutzte ihre sehr wandlungsfähige weiche Stimme für Musik an der Grenze zwischen Pop und Jazz, darunter einige Eigenkompositionen. Auch ihre sympathische Ausstrahlung kam gut beim Publikum an. Die Amerikanerin Stacey Kent hat schon seit einigen Jahren von London aus großen Erfolg. Ihre Begleitgruppe mit Ehemann und Tenorsaxofonist Jim Tomlinson kam recht hausbacken daher, doch ihre Interpretationen von Standards wirkten dann doch ganz frisch. Zum Glück ist ihre Gesangsstimme nicht ganz so piepsig wie ihre Sprechstimme, doch Vergleiche mit Billie Holiday, die in ihren Presseunterlagen auftauchen, erscheinen völlig unangebracht. Eher fällt einem da Rose Murphy ein. Auch Karrin Allyson wird gelegentlich mit Billie Holiday verglichen, auch das völlig unangebracht. Dabei zeigte Ms. Allyson eine sehr flexible Stimme mit jazziger Phrasierung, vor allem in Titeln aus ihrem ‚Ballads’ Album wie ‚All or Nothing At All’, das sie als Vokalversion des ‚Ballads’ Albums John Coltranes konzipierte. Ein Genuss war ihr exzellentes Trio mit James Williams am Klavier und dem geschmackvollen Schlagzeuger Joe La Barbera (ex Bill Evans Trio). Cassandra Wilson brachte mit Ausnahme-Gitarrist Brandon Ross, Bassist Lonnie Plaxico und Perkussionist Jeff Haynes sowie Harmonikaspieler Gregoire Maret eine Supergruppe nach Den Haag, sie war gut bei Stimme, der Saal voll – und doch wollte der Funke nicht überspringen. Das lag an Sound-Problemen und vor allem an den Songs von ihrer in Kürze erscheinenden neuen CD, die weder die Qualität ihrer CD ‚Blue Light Till Dawn’ noch die Südstaatenschwere ihrer CD ‚Belly of the Sun’ hatten. Begeisterung löste erst ihr Gastauftritt im Set von Van Morrison aus. Patti Austin hat sich nach dem Ausklingen ihrer Pop-Karriere nun ganz dem Jazz zugewandt. Begleitet vom BBC Orchestra unter Jiggs Whigham sang sie eine überzeugende Homage an Ella Fitzgerald und demonstrierte bei Titeln wie ‚Mr. Paganini’ ein immenses Jazz Feeling, das ihr schon von ihren Paten Dinah Washington und Quincy Jones in die Wiege gelegt worden sein muss. Auch ihre Bühnenpräsenz überzeugte ähnlich wie die von Dianne Reeves, die mit Pianist Peter Martin, Bassist Reuben Rogers und Schlagzeuger Greg Hutchinson ihre Klasse mit bewährten Titeln wie ‚Endangered Species’ und Standards von ihrem gerade erschienen Album ‚Little Moonlight’ bewies. Dabei kehrte sie nach üppigeren Instrumentierungen in den letzten Jahren zum klassisch strengen Trio-Format zurück. Der Auftritt der Grand Dame des Jazz Gesangs, Shirley Horn, am Ort ihres internationalen Durchbruchs im Jahre 1981 stimmte wehmütig. Nachdem ihr aufgrund ihrer Zuckererkrankung ein Fuß amputiert worden war, wurde sie im Rollstuhl auf die Bühne geschoben und von George Mesterhazy am Klavier begleitet. Stimmlich war sie zunächst sehr gut und zelebrierte Titel wie ‚Yesterday’ bei unnachahmlich langsamem Tempo. Doch im weiteren Verlauf versagte ihr schließlich die Stimme und sie brach das Set recht abrupt ab. Es war nicht klar, ob dabei psychische oder physische Gründe ausschlaggebend waren. Die große Entdeckung des diesjährigen Festivals war die 23-jährige Lizz Wright aus Atlanta. Die selbstbewusst und doch etwas scheu wirkende Sängerin begeisterte mit ihrer gospel-geschulten Stimme mit Titeln von ihrer kürzlich erschienenen bereits sehr erfolgreichen Debut CD ‚Salt’, die in Richtung von Cassandra Wilsons Marktnische zielt. Sie demonstrierte ihren Hang zur Lyrik, der sie auch ihre eigenen Songs schreiben lässt. Dass Ms. Wright auch richtig jazzig phrasieren kann, bewies sie in Harold Arlens ‚The Eagle and Me’. Diese Sängerin gibt Anlass zur Hoffnung auf eine große Zukunft.

Elektronik

Der Einsatz von Elektronik im Jazz hatte seine Hochzeit im Jazz Rock der 70er Jahre, wich dann der Rückkehr zum akustischen Klangideal und feiert in den letzten Jahren fröhliche Wiedergeburt. Diese Entwicklung wurde in Den Haag vielfältig widergespiegelt. So beging die Chick Corea Electric Band ihre Reunion. Die Future XXL Schiene präsentierte Big Bands wie die von Matthew Herman oder Jimi Tenor, die mit wechselndem Erfolg versuchten, das alte Big Band Konzept mit elektronischen Sounds zu kombinieren. Wesentlich überzeugender, wenn auch nicht neu war das Cuong Vu Trio. Der New Yorker Trompeter vietnamesischer Herkunft wandelte auf den Spuren des späteren Miles Davis und blies seine Trompete mit viel elektronischem Echo über dem Rhythmusteppich von E-Bassist Stomu Takeishi und Drummer Antonio Sanchez. Eine ähnliche Instrumentierung, aber mit mehr Aggression, nutzte der französische Trompeter Erik Truffaz. Da donnerten die Basswellen mit einer Stärke gegen die Brust, dass manch ein Zuschauer aus Angst vor Herz-Rhythmus-Störungen das Weite suchte. Ähnlich heftig gestaltete sich auch der Auftritt von ex-Noise-Musiker John Zorn mit seiner Gruppe Electric Masada mit dem immer wieder recht brachialen Gitarristen Marc Ribot.

Highlights

Während North Sea in den vergangenen Jahren dem klassischen Klaviertrio häufig viel Raum gegeben hatte, wurde es in diesem Jahr in geringer Quantität, dafür aber hoher Qualität geboten. Der New Yorker Altmeister Barry Harris, von Alter und überstandenem Herzinfarkt gezeichnet, begeisterte mit seinem Spielwitz und seiner Kreativität im erstmalig zusammen spielenden Trio mit Bassist John Webber und Schlagzeuger Joe Farnsworth. In seiner Einstellung war er deutlich: „Im Jazz geht es um Spontaneität und Schönheit. Davon höre ich auf diesem Festival arg wenig.“ Beim Trio von Pianist Jacky Terrasson hätte er genau das hören können. Mit Bassist Sean Smith und Drummer Gerald Cleaver zelebrierte Terrasson Titel wie ‚Smile’ mit mitreissenden Dynamikwechseln. Auch Kenny Werner bot mit seinem langjährigen Trio mit dem deutschen Bassisten Johannes Weidenmüller und Schlagzeuger Ari Hoenig Schönheit und Dynamik, etwa in seiner Komposition ‚Jackson Five’, die dem Maler Jackson Pollock und nicht etwa der Pop-Gruppe gewidmet ist. Randy Weston erläuterte seinen African Rhythms Ansatz nicht nur verbal und am Beispiel seiner ‚Uhuru Afrika’ Einspielung aus dem Jahre 1960 (die gerade als Teil eines exzellenten Mosaic Sets wiederveröffentlicht wurde), sondern zeigte gemeinsam mit Bassist Alex Blake und Perkussionist Neil Clarke auch im Konzert, dass er mit seinen 77 Jahren noch immer kraftvoll und intensiv den ‚Spirit’ beschwören kann.

Pianist Andrew Hill hielt sich in seinem exzellent besetzten Sextett als Solist zurück. Die Bläser Greg Hardy und Marty Ehrlich an diversen Saxofonen sowie Ron Horton an der Trompete interpretierten Hills Kompositionen mit viel Einfühlungsvermögen und machten die schwierige Musik zugänglicher. Als besonderes Highlight erwies sich der Auftritt von Peter Brötzmanns Chicago Tentett. Der Wuppertaler Saxofonist versammelte in dieser seit sechs Jahren bestehenden Gruppe ein Who is Who des amerikanischen Free Jazz Zentrums Chicago, unter anderem mit dem ausdrucksstarken Baritonsaxofonisten Mats Gustafsson aus Norwegen, dem hochdekorierten Tenorsaxofonisten Ken Vandermark, dem legendären Trompeter Joe McPhee und dem höchst variabel agierenden Hamid Drake als einem von zwei Schlagzeugern. Das Gruppenspiel war spannend und erstaunlich stringent arrangiert mit viel Freiraum für ausgedehnte freie Solo-Passagen. Herbie Nichols Project, eine der Gruppen, die aus der New Yorker Jazz Composers Collective hervorgegangen sind, hat zumindest in USA viel Aufsehen erregt. Der Den Haager Auftritt erklärte die Aufmerksamkeit, denn die Gruppe um Bassist Ben Allison, Pianist Frank Kimbrough und Trompeter Ron Horton zeigte ein wohl balanciertes Zusammenspiel und hat ein schon seit Jahren tragendes Konzept gefunden, Kompositionen des zu Lebzeiten wenig beachteten Pianisten Herbie Nichols mit Bläsern aufzuführen, was dieser selbst nie konnte.

Trompeter Roy Hargrove ist schon seit vielen Jahren der inoffizielle Den Haager Artist in Residence. Auch dieses Jahr verbrachte er zwei Tage auf dem Festival und trat mehrfach auf. Der in seiner Jugend so betont konservative Hargrove trat mit langem Rasta-Haarschopf auf. Auch musikalisch zeigte er sich zunehmend vielseitig. Seine Gruppe RH Factor zielte auf den aktuelle Pop-Markt, sein neu besetztes Quintett mit Bobby Sparks an Orgel und Klavier und gleich zwei sehr talentierten Saxofonisten, die sich einen feurigen Wettkampf um den fünften Platz im Quintett lieferten, orientierte sich am Soul Jazz Sound mit einem sehr funkigen Hargrove. Als Mitglied des Quintetts des kubanischen Pianisten Ramon Valle hielt sich Hargrove an der Seite des spanischen Saxofonisten Perico Sambeat dagegen stark zurück und überlies Valle das Feld für funkensprühende Solos. Der in den letzten Jahren hochgelobte Trompeter Dave Douglas wandelte auf den Spuren seiner letztjährigen CD ‚Infinite’, d.h. in für ihn eher konservativer Weise im Stil von Miles Davis 60er Jahre Sound (2. Hälfte), ohne einen bloßen Abklatsch zu liefern. Der Groove der Rhythm Section mit Bassist James Genus und Drummer Clarence Penn tat Douglas sichtlich gut, Uri Caine wurde recht funky am Fender Rhodes. Seamus Blake schlug sich wacker am Saxofon, reagierte aber beleidigt, als Douglas Chris Potter dazu bat, der auf der CD dabei gewesen war und in seinem Solo Blake an die Wand spielte.

Dave Holland gilt nicht nur als einer der profiliertesten Bassisten der Szene, sondern ist seit Jahren auf Grammies und sonstige Ehrungen abonniert. In Den Haag überzeugte er nicht nur mit einem inspirierten Auftritt seines perfekt eingespielten Quintetts, sondern hatte auch Gelegenheit, seine auf Basis des Quintetts formierte Big Band vorzustellen. Es war eindrucksvoll, wie gut die Quintett-Arrangements vieler Stücke auf die Big Band erweitert werden konnten, die als nur gelegentlich zusammenspielendes Ensemble natürlich im Satzspiel nicht den gleichen Grad an Perfektion bieten konnte. Die Begeisterung der Musiker war spürbar, solistisch stachen Saxofonist Antonio Hart und Posaunist Robin Eubanks besonders heraus. Die 80-jährige Legende der New Yorker Loft-Szene, Sam Rivers, lebt seit vielen Jahren in Florida. Nach Den Haag brachte er sein Florida-Trio mit den Multi-Instrumentalisten Doug Matthews und Antony Coles, die zu dritt neun Instrumente in wechselnden Konstellationen bedienten. Rivers wirkte lebendig und agil wie ein 40-jähriger, scherzte fortwährend, hüpfte zur Musik und spielte Tenorsaxofon und Flöte mit einer Spiritualität, wie man sie in diesen drei North Sea Tagen nur selten hörte. Ein Höhepunkte war seine Komposition ‚Beatrice’, bei der sich die in Jahren gewachsene Vertrautheit des Trios sehr bemerkbar machte.

Die Organisatoren des Festivals waren am Ende trotz des Rückgangs der Besucherzahl zufrieden. Die Organisation der Mammutveranstaltung lief wie üblich reibungslos, auch wenn es am übervollen Samstag zu einigen ‚Verkehrsstaus’ auf den Fluren des Kongresszentrums kam. Neuigkeiten über den zukünftigen Veranstaltungsort des Festivals nach dem Jahr 2005, wenn das Kongresszentrum umgebaut werden soll, waren noch nicht zu erfahren. Die nächste Ausgabe von North Sea Jazz soll vom 9. bis 11. Juli 2004 am gewohnten Ort stattfinden.

Hans-Bernd Kittlaus