Moers Festival 2009
Sonnenschein über dem Zeltplatz
Das perfekte Pfingst-Wetter rundete das gelungenste Moers Festival seit langem auf das Schönste ab. 12.000 Besucher in 4 Tagen und einhellige Begeisterung bei Besuchern und Fachleuten über das spannende Programm sprachen eine eindeutige Sprache. Festivalmacher Reiner Michalke hatte als Themenschwerpunkt die junge New Yorker Avantgarde Szene auserkoren, wobei das Programm aber wie immer breit streute und auch viele europäische und asiatische Musiker vorstellte.
Zu den Highlights gehörte der gebürtige Kanadier Darcy James Argue, der seine stark besetzte Secret Society Big Band aus New York mitbrachte. Abwechslungsreich arrangierte Ensemble-Passagen, die mitunter an Maria Schneider erinnerten, wechselten ab mit inspirierten Solos, bei denen Gitarrist Sebastian Noelle, Saxofonistin Erica von Kleist und besonders Trompeterin Ingrid Jensen in der Zugabe „Transit“ herausragten. Etwas enttäuschend geriet dagegen der mit viel Vorschusslorbeeren versehene Auftritt des Pianisten und Komponisten Guillermo Klein y Los Guachos, des in Barcelona beheimateten Argentiniers. Die hochkarätig besetzte New Yorker Band, u.a. mit Miguel Zenon und Chris Cheek an den Saxofonen, Trompeter Diedo Urcola, Gitarrist Ben Monder und Schlagzeuger Jeff Ballard, schien nicht so optimal eingespielt, wie die komplexen Kompositionen und Arrangements es erforderten; ein Funke sprang nicht über.
Begeisterung löste hingegen der Auftritt des Multisaxofonisten Colin Stetson aus. Trotz Jetlag gab er eine mitreissende Solo-Performance, die technisch mit extremer Zirkularatmung und phasenweise paralleler Melodieführung an Albert Mangelsdorffs Solo-Konzerte erinnerte. Seine enorme Energie in Verbindung mit Musikalität und Kreativität kam auch in den Morning Sessions am nächsten Tag zum Ausdruck. Diese Morning Sessions an drei Festivaltagen und drei Standorten wurden unter dem Motto „See What Happens“ von Angelika Niescier kuratiert, die ein gutes Händchen in der Zusammenfügung von Musikern aus den Bands des Hauptprogramms bewies und auch selbst mit einstieg. Nachdem diese Form der Jam Sessions bei den meisten europäischen Festivals in den letzten Jahren verloren gegangen ist, zeigten die Morning Sessions, dass da viel mehr herauszuholen ist als ein bloßer Blowing Contest auf Basis von Standards, die jeder kennt.
Breite und Risikofreudigkeit des Programms machten Enttäuschungen unvermeidlich. So erschloss sich den meisten Zuhörern nicht, warum die Sängerin Eivor Palsdottir von den Faröer Inseln mit ihren Folk Songs in Landessprache nach Moers geladen war. Positiv überraschte Wayne Horvitz, der seine Band Zony Mash um eine Bläser-Sektion erweiterte und von Hammond Orgel bzw. Keyboards aus einen leicht zugänglichen Groove Sound dirigierte. Aus Chicago kam The Trio bestehend aus drei Heroen der Musiker-Vereinigung AACM: Muhal Richard Abrams am Klavier, George Lewis an Posaune und Elektronik und Roscoe Mitchell am Saxofon. Sie lieferten ein respektables, wenn auch nicht sonderlich aufregendes Konzert und sonnten sich in der Ehrerbietung, die ihnen von Publikum und Mitmusikern entgegenbegracht wurde. Zwei Nachtkonzerte im völlig überfüllten Klub Röhre gab Tenorsaxofonist Dave Rempis mit seinem Percussion Quartet, ebenfalls aus Chicago. Der vor allem durch seine Mitarbeit in der Gruppe Vandermark 5 bekannte Rempis hatte mit Tim Daisy und Frank Rosaly gleich zwei Schlagzeuger sowie Ingebrigt Håker Flaten am Bass dabei. Gemeinsam hielten sie ihr Publikum mit energiegeladenem Free Jazz trotz später Stunde wach. Nachdem der Trompeter Peter Evans im letzten Jahr großen Erfolg mit seiner eigenen Gruppe in Moers hatte, der sicherlich ein wichtiger Impuls für die Wahl des Schwerpunktthemas New York in diesem Jahr war, kam Evans dieses Mal mit der Gruppe Mostly Other People Do The Killing. Die besteht aus vier brillianten Musikern, neben Evans dem sehr schrägen Schlagzeuger Kevin Shea, dem virtuosen Altsaxofonisten Jon Irabagon, der letztes Jahr den renommierten Thelonious Monk Wettbewerb gewann, sowie dem Kopf der Band, dem Bassisten Moppa Elliott. Nachdem sie eine ganze Woche in Moers ein Schulprojekt gemacht hatten, gaben sie auf dem Festival ein gefeiertes Konzert. Dabei bedienten sie sich der gesamten Jazz Tradition vom New Orleans Jazz über Ornette Coleman bis zu Free und Rock Jazz und schufen daraus einen faszinierenden Mix mit immer wieder überraschenden Wendungen, der trotzdem musikalisch in sich stimmig blieb.
Man muss sicher nicht die Meinung von Wolf Kampmann teilen, der in seinem Beitrag zum Programmhaft schrieb, der europäische Jazz sei an seine Grenzen gestoßen und brauche dringend eine Auffrischung aus der neuen jungen New Yorker Szene. Wenn man die aktuelle Musik in den deutschen Jazz-Hochburgen Köln und Berlin verfolgt, kann man ebenso wenig eine Stagnation erkennen wie in Italien, Frankreich oder Polen. Umgekehrt ist das Feiern einer gänzlich neuen New Yorker Szene wohl eher eine Frage der europäischen Wahrnehmung als der Realitäten. Man denke nur an die Community um das New Yorker Vision Festival oder an Musiker wie Vijay Iyer, Rudresh Mahanthappa, Lisa Sokolov oder die Strickland Brüder, die in den letzten zehn Jahren sehr wohl spannende Musik in New York gemacht haben. Trotzdem war es eine gute Idee von Reiner Michalke, New York als Schwerpunktthema zu wählen. Damit ging ein Jazz-Anteil am Moers Programm einher, der deutlich höher war als in den letzten Jahren und dem Festival gut tat. Und Austausch von Musikern aus unterschiedlichen Szenen hat den Jazz immer vorangebracht. So haben Reiner Michalke und sein Team nur ein Problem: Es wird schwer, das diesjährige Festival zu Pfingsten 2010 zu überbieten.
Hans-Bernd Kittlaus